Tormarken: Reliquien der Nürnberger Geschichte
Was ist ein Torzeichen?
Primärer Zweck eines Torzeichens ist es, jedes Stadttor einer Stadtmauer durchqueren zu können, und zwar jederzeit, und vor allem ohne kontrolliert zu werden. Was uns heute so selbstverständlich erscheint, war es noch nicht, als im 17. Jahrhundert die bei Künker angebotenen Nürnberger Torzeichen entstanden. Denn die Stadtmauer trennte damals strikt drinnen von draußen – und das hatte zweierlei Gründe.
Da ging es zunächst um die Verteidigung. Stadtmauern schützten vor der Eroberung. Und deshalb musste an den Toren aufmerksam kontrolliert werden, damit sich kein verkleideter Feind in die Stadt einschleichen konnte. Nachts waren die Tore geschlossen. Wer sie nicht vor dem Abendläuten passiert hatte, musste vor der Stadtmauer übernachten.
Doch das war nicht der einzige Zweck der Stadtmauer. Sie diente gleichzeitig als Zollschranke. Wer von außen kam, um Ware auf dem Nürnberger Markt zu verkaufen, musste am Stadttor Zoll zahlen. Schließlich konnte man nirgendwo leichter kontrollieren, wie viel Stück Vieh die ungarischen Viehherden umfassten, die über die Nürnberger Fleischbrücke in die berühmten Schlachthäuser der Stadt strömten.
Wer ein Torzeichen besaß, musste sich dieser Kontrolle nicht unterziehen. Doch nur drei Nürnberger verfügten gleichzeitig über so einen Freipass.
Wer erhielt so ein Torzeichen?
Der bekannte Nürnberg-Sammler Herbert J. Erlanger konnte in einem Aufsatz, den er 1971 im Jahrbuch für Numismatik und Geldgeschichte veröffentlichte, nachweisen, dass die Torzeichen nicht praktischen, sondern repräsentativen Zwecken dienten. Sie wurden zusammen mit den Stadtschlüsseln den Mitgliedern des Nürnberger Triumvirats anvertraut. Der oberste Losunger, der zweite Losunger und der dritte oberste Hauptmann führten an der Spitze des Inneren Geheimen Rates die Regierung der Stadt Nürnberg.
Es ist bezeichnend, dass sich die Doppelfunktion der Mauer auch in den Titeln der Triumvirn spiegelt, die über ein Torzeichen verfügten. Das Losungsamt war nämlich mit der Verwaltung der städtischen Finanzen, also mit der Steuereinziehung betraut. Und der Titel „Oberster Hauptmann“ wird wesentlich weniger vieldeutig im Lateinischen folgendermaßen wiedergegeben: Rei Militaris Praefectus Supremus – Oberster Vorsteher in allen militärischen Angelegenheiten.
Es war also eine erlesene Gruppe von Nürnberger Bürgern, die über ein Torzeichen verfügten. Ob die Triumvirn es häufig vorgezeigt haben? Wohl kaum. Nürnberg soll nach dem Ende des 30-jährigen Krieges um die 25.000 Einwohner gehabt haben. Da dürften die Torwächter die drei führenden Politiker persönlich gekannt haben.
Jedes einzelne Torzeichen ist also ein Unikum, das von Hand für eines der führenden Regierungsmitglieder angefertigt wurde. Die Stücke bestehen aus Silber, wurden graviert und die Gravuren mit einer schwarzen Paste hervorgehoben. Sie zeigen auf der Vorderseite eines der drei Wappen von Nürnberg. Darum sehen wir einen dem Psalm 126 entnommenen Spruch, der in Übersetzung folgendermaßen lautet: Wenn nicht der Herr die Stadt behütet, wacht, der sie behütet, umsonst. Das Datum entspricht dem Jahr, in dem der Beamte erstmals das Torzeichen erhielt, also wenn er zum Triumvirn ernannt wurde.
Die Rückseite nennt den Triumvirn, der dieses Zeichen führte, und zwar ohne seinen Titel. In unserem Fall war Johann Albrecht Haller von Hallerstein der Besitzer. Wir kennen sein Porträt. Wir wissen, dass er von 1569 bis 1654 lebte und seit 1653 das Amt des Obersten Hauptmanns von Nürnberg bekleidete.
Noch viel mehr wissen wir von Johann Wilhelm Kreß von Kressenstein, der nach dem Tod Johann Albrecht Haller von Hallerstein ins Nürnberger Triumvirat nachrückte. Denn von ihm ist uns nicht nur ein Porträt, sondern auch seine Leichenpredigt erhalten.
Ihr entnehmen wir, dass Johann Wilhelm Kreß von Kressenstein am 11. Mai 1589 in eine bedeutende Nürnberger Familie hineingeboren wurde. Sein Vater war im Langen Türkenkrieg Pfennigmeister, also eine Art Finanzminister des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation. Er fiel 1596 vor Preßburg im Kampf gegen die türkischen Truppen und ließ den kleinen 7-jährigen Hans als Halbweise zurück. Doch die reiche Verwandtschaft kümmerte sich.
Sie schickte den Buben – wie damals üblich – irgendwann nach dem 12. Geburtstag auf die Universität nach Altdorf. Mit 19 Jahren absolvierte Johann Wilhelm Kreß von Kressenstein seine Kavalierstour, ebenfalls ein Muss in besseren Kreisen. Sie diente weniger der Bildung, sondern vielmehr dem Spracherwerb und dem Aufbau persönlicher Beziehungen zur internationalen Oberschicht. Wie in protestantischen Kreisen Sitte, ging es dabei nicht nach Italien, sondern nach Frankreich, England, Holland und ins Königreich Böhmen, um dem Kaiser die Aufwartung zu machen.
Mit 26 Jahren heiratete Johann Wilhelm Kreß die Jungfrau Susanna, mit der er neun Kinder hatte, von denen ihn nur drei überlebten – auch dies nicht ungewöhnlich im 17. Jahrhundert.
Wie für ein Mitglied der Nürnberger Führungselite selbstverständlich stieg Johann Wilhelm Kreß von Kressenstein die Karriereleiter unaufhaltsam nach oben. Wir ersparen uns an dieser Stelle all die Ämter, Würden und Verwaltungsstellen, die er nach und nach anhäufte. Sein Leichenprediger, der damals sehr bekannte Pfarrer Martin Limburger listet sie minutiös auf.
Nicht ersparen wollen wir uns ein privates Detail: Johann Wilhelm Kreß von Kressenstein beschäftigte sich in seiner Freizeit mit der Genealogie, damals ein sehr weit verbreitetes und angesehenes Freizeitvergnügen. Er verfasste einige Manuskripte zu diesem Thema, von denen allerdings kein einziges gedruckt wurde.
Martin Limburg preist darüber hinaus die Frömmigkeit des Verstorbenen in den höchsten Tönen. Das könnte man nun durchaus für einen Topos in Leichenpredigten halten. Doch auch das persönliche Motto, das der Kupferstecher Andreas Kohl mit dem Porträt von Johann Wilhelm verbindet, zeugt von tiefster Religiosität. Es lautet: Das Heil wächst im Glauben an die Wunden Christi.
Was wir dagegen im Hinterkopf behalten müssen, ist die Tatsache, dass Johann Wilhelm Kreß von Kressenstein zu den führenden Nürnberger Politikerpersönlichkeiten gehörte. Er war instrumental daran beteiligt, Nürnberg durch die Wirren des 30-jährigen Krieges zu steuern, und er gehörte zu den Männern, die nach Abschluss des Westfälischen Friedens die Kriegsparteien in der Reichsstadt Nürnberg dazu brachten, Stück für Stück die im Vertrag festgelegten Ziele auch in die Realität umzusetzen. Die „Friedensnachverhandlungen“, die unter dem sperrigen Namen „Nürnberger Friedensexekutionskongress“ in die Geschichte eingegangen sind, waren mindestens genauso wichtig für die Befriedung Deutschlands wie der Westfälische Frieden.
Ohne die diplomatischen Fähigkeiten der Nürnberger Patrizier hätten die Söldnertruppen der verschiedenen Kriegsparteien das Reich noch viel länger geplagt. Johann Wilhelm Kreß muss sich bei diesen Verhandlungen ausgezeichnet haben. Denn er wurde am 21. Oktober 1654 zum zweiten Losunger gewählt. Bei dieser Gelegenheit wurde sein silbernes Torzeichen angefertigt, das bei Künker angeboten wird. Am 7. Juli 1655 erfolgte die Wahl zum obersten Losunger, womit das Amt des Reichsschultheiß verbunden war, der in Nürnberg die Stelle des Kaisers vertrat. Die Tormarke wurde dafür nicht geändert.
Johann Wilhelm Kreß starb im Alter von 68 Jahren wahrscheinlich an einer Lungenentzündung. Er hinterließ seine Witwe, zwei Söhne, eine Tochter, zwölf Enkel und sein silbernes Torzeichen, eine echte Reliquie im historischen Sinne.
Kann einen die Numismatik noch näher an einen Entscheidungsträger der frühen Neuzeit heranführen?
Die behandelten Torzeichen sowie weitere Stücke der fränkischen Heimatsammlung finden Sie in der Künker Auktion 375.