Warum Neuchâtel heute nicht zu Frankreich gehört
von Ursula Kampmann im Auftrag von SINCONA
Fast hätte Ludwig XIV. auch Neuchâtel in der heutigen Schweiz geschluckt, hätte Marie de Nemours nicht so energisch auf ihrem Recht bestanden. Wir erklären Ihnen die politische Lage und stellen Ihnen die Fürstin mit ihrer Münzprägung vor. Alle abgebildeten Stücke stammen aus der Sammlung Bürki und werden in Auktion SINCONA 95 am 24. Oktober 2024 versteigert.
Inhalt
Warum ist die Welt eigentlich so wie sie ist? Warum verläuft eine Grenze ausgerechnet hier und nicht 2 Kilometer weiter nördlich, südlich oder ganz wo anders? Warum sprechen wir hier Deutsch, dort Französisch und an manchen Orten sogar beides? Alles, was uns heute so selbstverständlich erscheint, hat seine Wurzeln in der Geschichte. Wir erzählen Ihnen, warum Neuchâtel kein französisches Departement ist, und warum seine Bürger Französisch und Deutsch sprechen. Dafür gehen wir zurück ins 17. Jahrhundert.
Henri II. d’Orléans-Longueville
Beginnen wir bei Henri II. von Orléans-Longueville, einem mächtigen Fürsten Frankreichs. Er war ein Prince de France und ein Pair; er verfügte über französische Besitzungen, für die er dem König Gehorsam schuldete; daneben aber war er Fürst der unabhängigen Herrschaften von Neuchâtel und Valangin, wo das Haus Orléans-Longueville seit 1504 völlig unabhängig vom französischen König regierte.
Henri II. wollte es gerne dabei belassen. Deshalb setzte er sich als Leiter der französischen Delegation während der Verhandlungen zum Westfälischen Frieden so vehement für die Unabhängigkeit der Eidgenossenschaft ein. Er brauchte sie als ein politisches Gegengewicht zu Ludwig XIV. Tatsächlich versuchte er sogar, Neuchâtel in die Eidgenossenschaft einzubinden. Das glückte nicht. Neuchâtel blieb ein zugewandter Ort mit einem besonders engen Verhältnis zu Bern.
Auf diesem Hintergrund kann man verstehen, warum Henri II. so großen Wert darauf legte, eigene Münzen in Neuchâtel prägen zu lassen, obwohl es für ihn viel billiger gewesen wäre, wie so viele andere Fürsten französisches Geld zu nutzen. Die Münzen waren ein Zeichen seiner Unabhängigkeit. Genauso wie Henri II. darauf pochte, dass seine Bürger keine französischen Gerichte anrufen durften, um seine Entscheidungen in Frage zu stellen, legte er Wert darauf, seine Autorität über den Geldumlauf durch eine eigene Münzprägung zu betonen.
Aber wie müssen wir uns die Verwaltung von Neuchâtel unter Henri II. vorstellen? Ihre Organisation wird wichtig, wenn wir uns mit Marie de Nemours beschäftigen. Die Entscheidungen fielen offiziell zwar am Hof des Fürsten, aber der befand sich nicht in Neuchâtel, sondern in den wesentlich prächtigeren Residenzen der französischen Besitzungen. Zum Bindeglied zwischen Fürst und Bürgern wurde der Staatsrat, dessen Mitglieder aus dem Neuchâteler Patriziat stammten. Einen Namen müssen wir uns hier merken: Georges de Montmollin. Er gehörte zu den engsten Beratern des Fürsten, beriet sich mit ihm an seinem Hof, führte seine Befehle in Neuchâtel aus und wurde von Henri II. im Jahr 1657 geadelt.
Nachfolgefragen
Am 11. Mai 1663 starb Henri II. Sein ältester Sohn Jean Louis beerbte ihn. Doch der wollte Priester werden und reichte sein Erbe an seinen jüngeren Bruder Charles Paris weiter. So wurde Charles Paris 1668 Fürst von Neuchâtel, was den jungen Heißsporn wohl eher weniger interessiert haben dürfte. Er kämpfte in diesem Jahr vor Candia gegen die Türken, konkurrierte um das Amt des polnischen Königs und hatte überhaupt sehr ambitionierte Pläne. All diese Pläne endeten bereits am 12. Juni 1672 im Kampf um die niederländische Festung Tolhuis. Charles Paris starb kinderlos und so war die Frage der Herrschaft wieder offen.
Marie de Nemours
Damit sind wir bei der Frau angekommen, die im Zentrum unseres Artikels steht: Marie de Nemours. Sie war die älteste Tochter von Henri II. und wird als eine sehr gebildete, starke Frau beschrieben, die es sich nicht nehmen ließ, ihren Vater zu den Friedensverhandlungen nach Münster zu begleiten. Sie kämpfte während der Fronde gegen den französischen König und publizierte am Ende ihres Lebens ihre Sicht der Dinge in ihren Erinnerungen.
Sie heiratete am 22. Mai 1657 Henri II. von Savoyen und dürfte ihre Entscheidung schon am Tag der Hochzeit bereut haben. Denn ihr Ehemann war krank und starb nach nicht einmal zwei Jahren, ohne dass Marie überhaupt schwanger geworden war. Die hatte danach genug von der Ehe. Sie blieb fortan ledig und beherrschte selbst ihre umfangreichen Besitzungen.
Intrigen, Interessen und Gerangel um die Macht
Als also 1672 die Nachfolge in Neuchâtel geregelt werden musste, erhob auch Marie de Nemours als älteste Tochter Henris II. Ansprüche auf das Erbe. Doch, wie gesagt, sie galt als energisch; und Neuchâteler Politiker wie Georges de Montmollin waren an einer energischen Herrschaft nicht interessiert. Der Neuchâteler Gerichtshof der Drei Stände entzog sich der Entscheidung, indem er Ludwig XIV. zum Schiedsrichter berief. Der sprach sich dafür aus, den fügsamen Priester Jean Louis wieder als Fürsten einzusetzen. Das eröffnete nämlich Möglichkeiten: Jean Louis zeigte Anzeichen von geistiger Verwirrung und seine mit der Regentschaft betraute Mutter hatte sich längst in ein Kloster zurückgezogen. Damit konnte der Staatsrat von Neuchâtel schalten und walten, wie er wollte. Dumm nur, dass man dafür Ludwig XIV. durch seine Ernennung zum Schiedsrichter eine Option auf die Oberherrschaft über Neuchâtel eingeräumt hatte. Dieser Fehler hätte fatal enden können.
1579 starb die Mutter von Jean Louis. Damit musste ein neuer Vormund bestimmt werden. Diesmal setzte sich Marie de Nemours durch. Eine ihrer ersten Amtshandlungen war es, Georges de Montmollin seiner Ämter zu entheben. Ein schwerer Fehler. Der gut vernetzte Politiker brachte Ludwig XIV. wieder ins Spiel und der übertrug die Vormundschaft 1582 auf Louis II. von Bourbon-Condé. Dies war eine Entscheidung ganz im Sinne von Montmollin. Bourbon-Condé hatte sich nämlich bereits auf sein Schloss Chantilly zurückgezogen, wo er sich mit seinen Sammlungen vergnügte. Er setzte Montmollin sofort wieder in seine Ämter ein und ließ ihm relativ freie Hand.
Le Grand Condé starb 1686. Damit ging sein Amt als Regent von Neuchâtel auf seinen Sohn über, den Zeitgenossen gerne als Le Fol Condé bezeichneten. Der überwarf sich 1693 mit Georges de Montmollin. Und nicht nur deshalb sah die Situation beim Tod des eigentlichen Fürsten, des geistesverwirrten Jean Louis im Jahr 1694 ganz anders aus: 1685 hatte Ludwig XIV. das Edikt von Nantes erlassen und damit gezeigt, was Absolutismus wirklich bedeutete: Ein absoluter Fürst fühlte sich an keine Absprache gebunden. Wehe dem Land, das unter seiner Herrschaft versuchte, seine Unabhängigkeit zu bewahren!
Der Triumpf der Marie de Nemours
Deshalb entschied der Gerichtshof der Drei Stände, dass die mittlerweile 69-jährige Marie de Nemours die Erbin ihres Bruders sei. Marie triumphierte. Endlich! Sie begab sich sofort nach Neuchâtel und ließ sich dort im Schloss nieder. In diesen Zusammenhang gehört ihre Münzprägung aus dem Jahr 1694. Sie präsentiert ihr Porträt auf einer prachtvollen doppelten Pistole, die als Teil der Sammlung Bürki am 24. Oktober 2024 versteigert wird. Die Umschrift der Vorderseite lautet in Übersetzung: Maria von Gottes Gnaden oberster Fürst von Neuchâtel. Die Rückseite zeigt das bekrönte Wappen der Orléans-Longuevilles und von Neuchâtel. Die Umschrift – Die Augen des Herrn ruhen auf den Gerechten – stammt aus Psalm 33, einem Danklied an Gott für die Niederschlagung aller Feinde.
Dass Marie de Nemours überhaupt eine Emission von Münzen prägen ließ, ist als Signal zu verstehen. Mit Ausnahme zweier ephemerer Prägungen in den Jahren 1666 und 1668 hatte es seit ihrem Vater Henri II. keine Münzen mehr in Neuchâtel gegeben. Die Zeitgenossen verstanden diese Botschaft sofort: Marie de Nemours war, wie ihr Vater, eine von Frankreich unabhängige Herrscherin.
Deshalb ließ sie nicht nur goldene Prunkprägungen herstellen wie die doppelte Pistole, die vorwiegend als Geschenke genutzt wurden. Sie gab auch den Auftrag, Umlaufgeld zu prägen, wie es von den einfachen Bürgern auf dem Markt benutzt wurde.
Der Kampf gegen Frankreich
Natürlich focht le Fol Condé mit Rückendeckung Ludwigs XIV. das Urteil an. Er forderte ein unabhängiges Schiedsgericht wohlwissend, dass der Sonnenkönig ihn einsetzen würde! Doch genau das fürchteten viele Patrizier in Neuchâtel. Sie ahnten, was geschehen würde, wenn er sich als Herrscher durchsetzen würde. Dasselbe, was 1702 – nur wenige Jahre später – mit dem Fürstentum Orange geschehen sollte: Ludwig XIV. erklärte Bourbon-Condé zum Erben; der besetzte das Fürstentum mit seinem Heer, überschrieb es anschließend der französischen Krone und damit war das unabhängige Fürstentum Orange ein Teil von Frankreich.
Die Furcht vor so einem Schicksal trieb all die ehemaligen Gegner von Marie de Nemours an ihre Seite. Man berief eine große Versammlung aller Stände von Neuchâtel ein, die am 24. April 1699 feierlich das Urteil des Gerichts der Drei Stände bestätigte und damit die Herrschaft von Marie de Nemours anerkannte.
Ludwig XIV. blieb nur eine wirkungslose Machtdemonstration: Als Inhaberin französischer Lehen schuldete ihm Marie de Nemours den Gehorsam, wollte sie dieses Besitzes nicht verlustig gehen. Ludwig verbannte sie im Januar 1700 auf ihre Herrschaft Coulommiers, nur zwei Tagesreisen von Versailles entfernt. Ihre Bewegungsfreiheit sollte sie erst dann zurückgewinnen, wenn sie sich seinem Willen unterwarf. Doch da kannte Ludwig XIV. Marie de Nemours schlecht. Sie weigerte sich, ihr Testament zu ändern.
Und während sich Ludwig XIV. noch über ihren Starrsinn aufregte, bereitete Georges de Montmollin im Hintergrund seinen letzten Coup vor: Den Übergang von Neuchâtel an die Hohenzollern.
Friedrich I. von Preußen, Fürst von Neuchâtel
Marie de Nemours starb am 15. Juni 1707 kinderlos. Nach ihrem Tod meldeten angeblich 19 Erben ihre Ansprüche auf Neuchâtel an. Neun von ihnen wurden vor dem Gericht der Drei Stände zugelassen. Es entschied sich für Friedrich I., König in Preußen. Der Grund liegt nahe: Dieser Herrscher würde sicher nicht unter französischem Einfluss geraten!
Ludwig XIV. war empört. Sofort plante er die militärische Besetzung von Neuchâtel. Sie kam nur deswegen nicht zustande, weil zu viele Ressourcen im Spanischen Erbfolgekrieg gebunden waren. Neuchâtels Glück war es, dass seine Unabhängigkeit zum Thema während der Friedensverhandlungen wurde, die diesen Krieg beenden sollten. 1713 verzichtete Frankreich im Frieden von Utrecht endgültig auf Neuchâtel.
Neuchâtel sollte nur während der Napoleonischen Kriege eine kurze Episode der französischen Herrschaft erleben. Aber das ist schon wieder eine ganz andere Geschichte.