Lars Emil Bruun (1852-1923): Vom Dorfkrug zum Großunternehmer
von Ursula Kampmann im Auftrag von Stack’s Bowers Galleries
Die Versteigerung der Ausnahme-Sammlung Bruun, 100 Jahre nach dem Tod des Sammlers, hat für viel Aufmerksamkeit gesorgt. Doch wer war dieser Bruun? Was trieb ihn an? Ursula Kampmann hat sich für Stack’s auf die Suche nach Bruuns Persönlichkeit gemacht und eine kurze Biografie zusammengestellt.
Inhalt
Jede Sammlung ist einzigartig, genau wie jeder Sammler und jede Sammlerin. Um eine Sammlung wirklich zu verstehen, muss man denjenigen kennen, der sie zusammengetragen hat. Das ist schon schwierig bei lebenden Personen. Bei Menschen, die wie Lars Emil Bruun vor 100 Jahren verstorben sind, ist es fast unmöglich. Während es leicht ist, die wichtigsten Daten und Fakten zusammenzutragen, wird die Suche nach der Persönlichkeit geradezu zu einem Puzzle. Die vielen kleinen Bröckchen an Information ergeben nur dann ein Bild, wenn man sie richtig zusammensetzt. Jedes neue Teilchen muss sorgfältig eingepasst werden, kann manchmal das Bild überraschend verändern.
Wir haben versucht, in diesem Beitrag die vorhandenen Informationen zu einem Bild zu ordnen. Dies wurde nur möglich, weil Lars Emil Bruuns Enkel Ioann Bruun und Lokalhistoriker Flemming Weye im Jahr 2006 eine umfangreiche Studie der archivalischen Quellen in ihrem Buch Smør og mønter („Butter und Münzen“) publiziert haben. Dieses Werk diente als Basis für den folgenden Artikel.
Ein Geschlecht von Dorfwirten
Lars Emil Bruun wurde am 29. März 1852 in dem kleinen dänischen Ort Havdrup Ulvemose geboren. Seine Wiege stand in einer Mühle, die sein Vater Ole Bruun gepachtet hatte. Dieser Vater muss ein unruhiger Geist gewesen sein. Er ging bereits als junger Mann zur See, statt sich in das gemachte Nest zu setzen, das ihm die Vorfahren bereitet hatten. Das Geschlecht der Bruun – das dänische Äquivalent zum englischen Brown – stellte seit 1768 die Dorfwirte von Ordrup, einem kleinen Ort ca. 11 Kilometer nördlich von Kopenhagen. Dort betrieben sie einen florierenden Dorfkrug, eine Art Gasthaus mit Übernachtungsmöglichkeit, wo Bauern zusätzlich Waren kaufen und verkaufen konnten. Dazu verfügten die Bruuns über umfangreichen Landbesitz, den Oles geschäftstüchtige Großmutter erworben hatte.
Ole war nicht bereit, seinen Vater beim Betrieb des Dorfkrugs zu unterstützen. Stattdessen erwarb er das Steuermannspatent und kehrte erst nach dem Tod seines Vaters am 4. April 1844 nach Ordrup zurück. Wir wissen nicht, warum er dort nicht blieb, sondern schon im November 1850 die in einer ganz anderen Ecke Dänemarks gelegene Mühle von Havdrup Ulvemose pachtete. Vielleicht kam er mit den Ordrupern nicht zurecht. Vielleicht brachte der Krug unter seiner Leitung nicht genug ein, denn geschäftstüchtig war Ole Bruun wohl eher nicht. Auch die Mühle in Havdrup Ulvemose betrieb er nur bis 1857, obwohl er zusätzlich eine Konzession als Mühlenwirt erhalten hatte.
Er kehrte nach Ordrup zurück wo sich in den späten 1850er Jahren enorme Möglichkeiten boten. Eine Eisenbahnlinie wurde gebaut, die seit 1863 Ordrup direkt mit Kopenhagen verband. So konnten Waren und Menschen in kürzester Zeit in die Hauptstadt transportiert werden, was wiederum das Wachstum ankurbelte. Heute gilt die Epoche ab 1800 als das Goldene Zeitalter Dänemarks. Alles schien damals möglich. Doch ein Jahr später war es vorbei: Der Deutsch-Dänische Krieg vernichtete die dänischen Großmachtsträume.
Es ging um die Herzogtümer Holstein und Schleswig, deren Nationalität zwischen Dänemark und Deutschem Bund umstritten war. Im Krieg zeigte sich, dass die dänischen Streitkräfte dem vereinigten Heer der Preußen und Österreicher nicht gewachsen waren. Der kleine Lars Emil war damals 12 Jahre alt und natürlich viel zu jung, um mitzukämpfen. Er war aber schon alt genug, um mit den vielen dänischen Soldaten, die im Gasthaus eines Vaters einquartiert waren, Freundschaft zu schließen. Eifrig studierte er die Zeitungen, die lange Listen von Gefallenen veröffentlichten. Er verfolgte das Schicksal all seiner neuen Kameraden genau und wurde dabei zu einem glühenden Patrioten. Für ihn blieben Schleswig und Holstein immer dänisch.
Harte Jahre in Holbæk
1866 musste die dänische Regierung akzeptieren, dass Schleswig und Holstein verloren waren. Damit büßte das Land nicht nur 40% seiner Bevölkerung ein. Es musste in Zukunft auch auf eine Reihe von wichtigen Häfen verzichten, dazu auf die zweite Universität des Landes, auf zahlreiche Industriebetriebe und – besonders schmerzhaft – die landwirtschaftlich ertragreichsten Provinzen. Wenn Lars Emil Bruun, der in vielen Sprachen korrespondierte, sich nie dazu überwinden konnte, Deutsch zu schreiben, dann ist der Grund in diesem traumatischen Verlust zu suchen.
Dänemark sollte sich wirtschaftlich schnell aufrappeln. Kluge Politiker forcierten Reformen, um das „was man außen verloren hatte, von innen heraus zu gewinnen“. Im Zuge dieser Erneuerung wurde auch das dänische Bildungswesen modernisiert. Davon hatte Lars Emil Bruun aber nichts. Für ihn kamen die Reformen zu spät. Er erwarb seine lückenhafte Schulbildung teils in einer Volksschule, teils auf Privatschulen und im häuslichen Unterricht beim örtlichen Pastor. Am 1. August 1866 gab ihn sein Vater in die Lehre, wie es in den bürgerlichen Kreisen Europas seit dem ausgehenden Mittelalter Sitte war.
So lernte der 14-jährige das Handwerk eines Kaufmanns im Geschäft von C. E. Nissen in Holbæk. Das bedeutete im Sommer Arbeitszeiten von 6.00 bis 22.00, im Winter von 7.00 bis 21.00 Uhr. Sonntag? Theoretisch war der Laden während der Messe geschlossen, doch die Hintertür blieb offen, weil die Bauern gerade am Sonntag Zeit fanden, ihre Geschäfte zu erledigen. Die Arbeit war hart und körperlich fordernd. Besonders hasste der junge Lars Emil das „Heringe legen“, also das Umschichten der eingelegten Salzheringe vom großen Fass des Kaufmanns in die kleineren Behälter der Bauern. Er schilderte später beredt, wie das Salz besonders im Winter die von Frostbeulen verunstalteten Hände angriff. In diesen vier Jahren sah Lars Emil seine Eltern nur zwei Mal. Schließlich war die Reise ins ca. 65 Kilometer entfernte Ordrup zeitaufwändig und kostspielig.
Und überflüssiges Geld hatte damals kein Lehrling. Er erhielt für seine harte Arbeit nur Kost, Kleidung und Logis. Er schlief zusammen mit einem ausgelernten Gesellen in einem winzigen Zimmer, durch dessen Decke der Regen tropfte. Das Bett war zu schmal, Lumpen dienten zum Zudecken, aber das war nicht das Schlimmste. Bruun sollte später mit Grauen schildern, dass die Hausfrau immer zu viel Fleisch einkaufte, das dann verdarb. Weggeworfen wurde es natürlich nicht, sondern den Lehrlingen vorgesetzt. Die waren froh, wenn sie es nicht unter den Augen der Hausfrau verspeisen mussten. So hatten sie die Chance, es zu beseitigen.
Eigentlich gab es nur eines, was Lars Emil damals tröstete: die Münzen, mit denen er sich prächtig in vergangene Zeiten und andere Welten hinwegträumen konnte. In diesen schweren Jahren entwickelte sich die Liebe Bruuns zur Numismatik. Sie verschaffte ihm nicht nur Erholung, sondern auch die Freundschaft eines ebenfalls an Münzen interessierten Künstlers, dessen Frau den Lehrling nur allzu gerne bemutterte. 49 Silber- und 87 Kupfermünzen erwarb der junge Sammler damals. Noch viel später sollte er darauf stolz sein.
Erste Schritte in der Geschäftswelt
Am 25. September 1870 endete die Lehrzeit. Ab diesem Stichtag erhielt der junge Bruun 200 Reichstaler Gehalt – jährlich! –, dazu Kost und Logis. Gute anderthalb Jahre blieb Bruun bei Nissen. Dann verließ er ihn mit einem ausgezeichneten Zeugnis.
Statt sich sofort einen neuen Arbeitsgeber zu suchen, entschied sich der gerade 20-jährige, seine fehlende theoretische Ausbildung nachzuholen. Er schrieb sich als Student an Grüners Handelsakademie ein. Ihr Gründer, Haldur Grüner, galt damals als der führende dänische Wirtschaftswissenschaftler. An seinem Kopenhagener Institut studierten auch die Söhne der Großkaufleute. Lars Emil mochte ihnen zwar an Praxis weit überlegen sein, aber seine schulische Grundausbildung war eher mangelhaft. Er musste viel nachholen, ehe er eines der besten Examen seines Jahrgangs ablegte.
Das verschaffte ihm eine für sein Alter hervorragend bezahlte Stellung bei Großhändler P. F. Esbensen. Nun erhielt er 1.000 Reichstaler jährlich! Allerdings ohne Kost und Logis. Für Bruun war diese Stellung entscheidend. Hier lernte er, was er später für den Butterhandel wissen musste. Denn sein unternehmungslustiger Chef gehörte zu den ersten, die auf diese äußerst lukrative Ware auswichen. Esbensen kaufte Butter im großen Stil; obwohl Lars Emil Bruun eigentlich gar keine Butter mochte, war es seine Aufgabe, Butter aus Hunderten von Fässern zu probieren, um die Qualität der Handelsware zu garantieren. Denn Esbensen verpackte die Butter in kleine Blechdosen, um sie als Luxusartikel vor allem in die warmen Länder der Welt zu verschicken, wo bis dahin kaum Butter verwendet worden war. Bruun erinnerte sich gerne an diese Zeit, auch wenn die Arbeitszeiten uns heute unvorstellbar scheinen: Von 7.30 bis 12.00, von 12.30 bis 16.00, von 17.00 bis 20.30 und von 21.00 bis 22.30 Uhr, insgesamt 13 Stunden. An Donnerstagen wurde bis weit nach Mitternacht gearbeitet, denn dann musste die Ladung für die Dampfschiffe fertig gemacht werden, die jeden Freitag morgen nach England fuhren. England war einer der wichtigsten Absatzmärkte für dänische Butter, was beim Münzsammler Bruun dazu führte, dass er sich für englische Münzen zu interessieren begann.
P. F. Esbensen entwickelte sich gerade zu einem der größten Butterhändler Dänemarks, als Lars Emils Vater Ole wieder auftauchte, um von seinem Sohn zu fordern, alles liegen und stehen zu lassen, um ihm aus der ökonomischen Patsche zu helfen.
Der Verlust des Familienvermögens
Irgendwann, so dürfte es sich Lars Emil Bruun während all der Jahre vorgestellt haben, irgendwann würde er mit seinem Anteil am Familienerbe eine eigene Firma aufmachen. Doch das, was er anfangs des Jahres 1877 in Ordrup vorfand, war ein wirtschaftliches Desaster. Das Familienvermögen war verschleudert, hohe Schulden lasteten auf allen Immobilien. Vater Ole hatte versucht, den Grundbesitz der Familie durch infrastrukturelle Verbesserungen aufzuwerten, um ihn dann teuer zu verkaufen. Als er durch die auch in Dänemark zu spürenden Auswirkungen der Gründerkrise in eine wirtschaftliche Schieflage geriet, ging er zu einem der schlimmsten Wucherer Kopenhagens. Die jährlich Zinslast von 28-48% konnte er nicht mehr bedienen. Lars Emil Bruun blieb nur, den Bankrott seines Vaters in geordnete Bahnen zu lenken und dafür zu sorgen, dass der Name Bruun in Wirtschaftskreisen seinen guten Ruf behielt. Er kam persönlich für alle Schulden auf, die sich aus dem Familienvermögen nicht mehr decken ließen, auch wenn das viele Jahre dauern sollte.
1877 war Lars Emil Bruun auf dem Tiefpunkt. Er hatte seine Arbeit und alle Hoffnung auf ein Erbe verloren. Seiner Mutter blieben 2 Kronen am Tag, um die gesamte Familie zu ernähren. Das reichte nicht einmal für einen Dienstboten in einer Zeit, in der nur die Armen und Besitzlosen die grobe Hausarbeit selbst erledigten.
Es sagt viel über Lars Emil Bruun, dass er sogar diese schlimme Zeit nutzte, um zu lernen. Er ging quasi noch einmal in die Lehre, arbeitete für Kost und Logis auf einem im Süden Dänemarks gelegenen Gutshof, weil er dort einen Einblick in die damals modernsten Techniken zur Butter- und Käseherstellung erhielt. Das detaillierte Wissen, das er dort erwarb, sollte ihm später zu Gute kommen.
Die Gründung einer eigenen Firma
Im April des Jahres 1880 fand Lars Emil Bruun eine neue Anstellung in der Butterhandlung von C. E. W. Kramer und Wilhelm Bagger. Doch Kramer, mit dem sich Bruun gut verstand, starb bereits 1882. Mit Bagger kam Bruun nicht klar. So entschied er sich, seine eigene Firma „The Copenhagen Preserved Butter Company“ zu gründen. Tatsächlich fanden sich dafür zwei Kapitalgeber, ein ehemaliger Landwirt und ein Großhändler.
60.000 Kronen Kredit, damit konnte Bruun arbeiten. Es war allerdings auch nicht üppig. Es reichte gerade dafür, günstige Räume zu mieten und Butter zu kaufen, die Bruun selbst zusammen mit einem Knecht und einer billigen Hilfskraft in Dosen verpackte.
Und noch einmal hatte Bruun Pech: Seine beiden Geldgeber starben völlig überraschend innerhalb der ersten sieben Monate. Der Tod des Großhändlers war besonders tragisch: Er schnitt sich an einer geöffneten Butterdose und starb an einer Blutvergiftung. Die Erben kündigten Bruun den Kredit und forderten ihren Anteil an allen bisher erzielten Gewinnen innerhalb eines halben Jahres.
Sobald Bruun davon erfuhr, verschwand er ins Ausland. Das sorgte in Kopenhagen für die wildesten Gerüchte. Bei seiner Rückkehr lag die heiß geliebte Mutter im Sterben. Bruun eilte nach Ordrup, um an ihrer Seite zu sein und sie zu Grabe zu tragen. Hier zeigte sich die unglaubliche Zähigkeit von Lars Emil Brun: Statt vor Trauer gelähmt zu sein, reiste er im Land herum, um alle Butter zu kaufen, die er bekommen konnte. Es stellte sich heraus, dass seine Auslandsreise dazu gedient hatte, Aufträge zu akquirieren. Der junge Mann hatte ein volles Auftragsbuch, das er „nur“ abarbeiten musste. Innerhalb der drei Sommermonate des Jahres 1885 verdiente er genug, um die Erben seiner Geldgeber auszuzahlen, die Familienvilla in Ordrup von seinem Vater zu kaufen und gleichzeitig genug Eigenkapital aufzubauen, um sein Geschäft fortzuführen.
Ein Aufstieg in die besseren Kreise
Lars Emil Bruun war fleißig, geschickt, verlässlich und kannte die Branche besser als jeder andere. Unter seiner Leitung entwickelte sich „The Copenhagen Preserved Butter Company“ zu einem der führenden Exporteure für dänische Butter. 1895 beschäftigte die Firma während der Sommersaison über 200 Mitarbeiter, die über eine Million Dosen Butter verpackten. Um 1900 deklarierte Bruun ein jährliches Einkommen in Höhe von 910.000 Kronen. 1917 besaß er – so seine Steuererklärung – ein Vermögen in Höhe von 18 Mio. Kronen.
Kein Wunder, dass die bessere Gesellschaft auf diesen erfolgreichen Unternehmer aufmerksam wurde. Man lud ihn ein. Man beteiligte ihn an kulturellen Projekten. So gehörte Bruun zu den Gründungsmitgliedern des „Münzsammlervereins Kopenhagen von 1885“. Das war damals eine Auszeichnung. So ein Münzverein hatte höchstens ein, zwei Dutzend Mitglieder, die alle wohlhabend waren. Ein hoher Mitgliedsbeitrag und die Bürgschaft, die für die Aufnahme notwendig war, verhinderte es, dass Arbeiter oder Angestellte beitraten.
Der bodenständige Bruun dürfte fasziniert und geschmeichelt gewesen sein von all der Aufmerksamkeit, die ihm nun zu Teil wurde. Verliebte er sich deshalb in Ingeborg Bauditz? Schließlich suchte er, wie wir aus einem Brief vom 26. Mai 1886 wissen, schon lange nach einer passenden Ehefrau. 40 Jahre war Lars Emil Bruun, als er am 3. Mai 1892 mit der 28-jährigen Ingeborg Bauditz vor den Altar trat. Sie stammte aus der besten Gesellschaft Kopenhagens. Schon ihr Großvater mütterlicherseits – ein Kaufmann und Politiker – war einflussreich und wohlhabend. Ihr Vater entstammte einer alten dänischen Militärdynastie mit besten Verbindungen zum Königshof.
Ein Bauer bleibt ein Bauer – zumindest für die Kopenhagener Gesellschaft
Ob es Liebe war, die Ingeborg veranlasste, ihr Jawort zu geben? Oder heiratete sie Bruun nur, weil ihr nichts anderes übrig blieb? Wir werden es nie wissen. Ein Foto, das im Jahr 1897 aufgenommen wurde, deutet bereits die Entfremdung der Eheleute an: Ingeborg steht frontal, ohne sich um ihren Ehemann zu kümmern, während der sich geradezu krampfhaft an ihrem Arm festhält.
Wie unglücklich die Ehe war, davon zeugt ein Brief aus der Hand Lars Emil Bruuns zum 8. Hochzeitstag. Darin spricht er davon, dass sich seine Frau nie für sein Geschäft interessiert habe. Sie suche nur ihr Vergnügen und setze dabei wegen all ihrer Männerbekanntschaften seinen Ruf aufs Spiel. Ganz Kind seiner Zeit sucht Bruun die Schuld bei seiner Frau und verlangt von ihr, sich grundlegend zu ändern: „Ich selbst bin unglücklich, und nur du kannst alles ändern, wenn du willst; aber du musst dein Verhalten völlig ändern, sonst geht es nicht. Das versichere ich dir. Es geht nicht. Ich sende dir diese Zeilen, um dich zu bitten, für mich und deine Kinder aufzuhören und dich zu ändern; denn sonst wird es für mich und die Kinder zu einer schrecklichen Katastrophe, denke daran.“
Vielleicht waren es unüberbrückbare Mentalitätsunterschiede, die Lars Emil Bruun von Ingeborg trennten. Er stammte aus einfachsten Verhältnissen, sie war das Produkt der besseren Kopenhagener Gesellschaft. Lars Emil Bruun teilte weder die Vorurteile der alteingesessenen Großkaufleute, noch hatte er ein Gespür für ihre Moralvorstellungen. Was sollten sie von einem Firmenchef halten, der sich persönlich darum kümmerte, dass seine uneheliche Schwester eine gute Stellung fand? Der sich die Zeit nahm, persönlich ein Beileidsschreiben zu verfassen, nur weil die Frau eines seiner vielen Untergebenen verstorben war? Mit welcher Anteilnahme Lars Emil Bruun sein Personal behandelte, zeigen Ausschnitte aus seinen Tagebüchern. Das war nicht üblich. Und dann gab es natürlich diesen Vorfall, der die numismatische Vereinigung spaltete.
Alles begann damit, dass ihr Vorstand im Jahr 1894 beschloss, eine Medaille herauszugeben. Das war ein wirtschaftliches Wagnis, denn selbst wenn jedes der 24 Vereinsmitglieder eine Medaille kaufte, waren die Kosten für Entwurf, Stempelschnitt und Herstellung bei weitem nicht gedeckt. Deshalb versprachen einige Mitglieder, darunter auch Bruun, nicht nur eine, sondern mehrere Medaillen abzunehmen. Aber auch das half nichts. Der Verkauf entwickelte sich zu einem finanziellen Desaster. Der Vereinskasse drohte ein dramatischer Verlust. In dieser Situation ging Vereinspräsident Vilhelm Bergsøe zu Bruun. Was sich dort genau abspielte, werden wir wohl niemals erfahren. Bergsøe erzählte jedenfalls jedem, der es hören wollte, Bruun habe sich geweigert, zehn Medaillen abzunehmen, deren Kauf er zu 5 Kronen das Stück zugesagt habe. Bruun hatte den Besuch ganz anders in Erinnerung. Deshalb stellte er Bergsøe zur Rede. Der entzog sich dem unangenehmen Streitgespräch und bezeichnete Großkaufmann Bruun als „Bauern“. Bruun revanchierte sich seinerseits damit, Bergsøe verklausuliert einen Lügner zu nennen. Ein unglaublicher Eklat! Keiner von beiden gab nach. Ein heftiger Schriftwechsel entstand, bis der gesamte Vorstand zurücktrat. Der Verein existierte fortan nur noch dem Namen nach. Und all das wegen 50 Kronen – für einen Lehrling viel Geld, für einen Großindustriellen ein Nichts.
Wie mag Ingeborg darüber gedacht haben? Eine verständnisvollere Frau hätte dem Ehemann vielleicht die Spielregeln ihrer Gesellschaftsschicht erklärt. Aber hätte Lars Emil Bruun auf sie gehört? Tatsache ist, dass die Ehe im Januar 1906 geschieden wurde. Die drei Kinder – Eivin, Hans und Eleanor – wurden dem Vater zugesprochen.
Neue Ehe, neues Glück
Bereits am 14. Oktober 1908 heiratete Lars Emil Bruun zum zweiten Mal. Diesmal stammte seine Braut nicht aus der besseren Gesellschaft, sondern aus genau derselben Schicht, der er selbst entstammte. Die 28-jährige Pauline Antoinette Juliane Kjær, liebevoll Tony genannt, war Tochter eines Gutsbesitzers. In einem Brief gibt Bruun der Hoffnung Ausdruck, „dass diese Ehe glücklicher wird als meine erste und dass Gott mir den Frieden für den Rest meines Lebens schenkt, nach dem ich mich so sehr sehne.“
Eine europäische Tragödie
Tatsächlich wurde die Ehe mit Tony sehr glücklich. Die Reisetagebücher von Lars Emil Bruun zeugen von einer tiefen gegenseitigen Zuneigung und Rücksichtnahme. Der so sehr ersehnte Frieden wurde dem erfolgreichen Großkaufmann allerdings nicht geschenkt, genauso wenig wie all den anderen Bürgern Europas. Die brutalen Kämpfe vor, während und nach dem Ersten Weltkrieg kosteten ihn das Leben seines ältesten Sohnes, des am 2. März 1893 geborenen Leofred Eivin Bauditz Bruun.
Vorwürfe, sich nicht um sein Kind gekümmert zu haben, musste sich der Vater nicht machen. Zwar schickte er den inzwischen 13-jährigen nach der Scheidung auf das damals sehr bekannte Internat von Birkerød, doch einmal im Jahr kam die Familie in der Winterzeit für drei Monate zusammen, um gemeinsam die Ferien an der französischen Riviera zu verbringen.
Und so gehört das Schicksal von Eivin zu den großen Tragödien im Leben von Lars Emil Bruun. Sein Sohn war kein geborener Kaufmann wie der Vater, sondern begeisterte sich für das Militär. Mit 19 Jahren stürzte er sich völlig unvorbereitet und freiwillig in den Ersten Balkankrieg. Das Glück war ihm hold: Die große Schlacht blieb ihm erspart. Stattdessen kämpfte der schneidige Eivin in kleineren Gefechten mit türkischen Truppen und albanischen Räuberbanden; er freute sich an den Ehrbezeigungen der einheimischen Bevölkerung und träumte den Traum vom heroischen Kampf gegen alles Böse.
Nach seiner Rückkehr schlug er eine Karriere in der dänischen Armee ein. So blieb ihm die brutale Realität der Schützengräben während des Ersten Weltkriegs erspart. Dänemark war neutral; das dänische Heer kam nicht zum Einsatz. 1918 wurde Eivin bei Kriegsende ausgemustert. Doch schon im Januar 1919 eilte er ohne Rücksprache mit seinem Vater nach Estland, um die „Dänenstadt“ Talinn gegen die Bolschewiki zu verteidigen. Es kam, wie es kommen musste: Eivin erlitt bei einem „heroischen“ Einsatz eine tödliche Verletzung. Unter Lebensgefahr retteten ihn zwei Sanitäter vor einer Gefangennahme durch die Roten. Umsonst. Eivin starb nach fünf Tagen im Feldlazarett. Dem Vater blieb nur noch, die Leiche auf eigene Kosten in Höhe von 822,75 Kronen nach Hause zu bringen. Die Lokalzeitung von Gentofte berichtet über Eivins Beerdigung: Der Sarg sei in den Dannebrog und die estnische Fahne gehüllt gewesen. Man habe ihn fast nicht gesehen unter all den Kränzen aus Estland, Lettland und Dänemark. Ob es den Schmerz des Vaters gemildert hat, dass sein Sohn von den Medien als „dänischer Held“ gefeiert wurde?
Wir wissen, dass Vater und Sohn an militärisches Heldentum glaubten. Das beweist uns die große Spende, die Bruun der französischen Stadt Pont-à-Mousson zu Teil werden ließ. Der Ort war bewusst gewählt. Pont-à-Mousson war keine beliebige Stadt. Ihre Bewohner hatten von der französischen Regierung 1921 das Kriegskreuz mit Palme, 1922 das Kreuz der Ehrenlegion erhalten. Hier in Pont-à-Mousson hatten besonders heftige Kämpfe getobt. Sie kosteten Franzosen und Deutsche fast 7.000 Mann. Die Zivilbevölkerung der Stadt schrumpfte kurzzeitig auf weniger als 50 Bewohner. Lars Emil Bruun übergab dem Bürgermeister von Pont-à-Mousson eine größere Geldspende, um für die Kinder der getöteten Zivilbevölkerung ein Kinderheim zu errichten, das er persönlich besuchte.
Die Reise nach USA von 1920
Seit Lars Emil Bruun es sich leisten konnte, hatte er ausgedehnte Reisen unternommen, die mehrere Bedürfnisse befriedigten. Er besuchte die Agenten und Kunden seines Butterimperiums persönlich, lernte dabei die weite Welt kennen und kaufte bei Münzhändlern rund um den Globus ein. Von zwei großen Reisen, die er zusammen mit seiner Gattin Tony unternahm, liegen uns ausführliche Reisetagebücher vor. Sie bringen uns den Menschen Lars Emil Bruun näher und zeugen von seiner numismatischen Leidenschaft.
So besuchte er selbstverständlich im Rahmen seiner Reise in die Vereinigten Staaten den heute noch sehr bekannten Sammler Virgil Michael Brand. In seinem Tagebuch schildert Bruun, unter welchen merkwürdigen Umständen Brand in seiner wegen der Prohibition still gelegten Brauerei lebte. Etwas überheblich stellt er dabei fest, dass „der Mann wie ein kleiner deutscher Gastwirt“ aussah und spöttelt, dass „sein Inneres geistig seinem Äußeren entspricht“. Bruun bedauert ihn, weil er vor Angst, dass seine Schätze gestohlen werden könnten, all seine Münzen im Banktresor lagere. Deshalb konnte Brand ihm nur wenig zeigen, darunter aber einige äußert seltene Stücke: 5-Guineas von James II., George II., alle in Stempelglanz. Ganz egoistischer Sammler äußert Bruun die Hoffnung, dass Brand sich nicht auf dänische Münzen verlegen möge, denn „dann würden sie künftig teuer werden!“
Die letzten Jahre
Der etwas gallige Humor, der aus den Aufzeichnungen des Jahres 1920 heraustönt, mag damit zusammenhängen, dass Bruun mit den ersten Symptomen seiner Diabetes zu kämpfen hatte. Wir haben heute vergessen, welch schreckliche Auswirkungen diese Krankheit vor der Entdeckung von Insulin hatte. Wer damals an Diabetes erkrankte, dem blieben höchstens noch zwei, drei Jahre. Er verhungerte buchstäblich, fiel am Ende bis auf die Knochen abgemagert ins diabetische Koma und starb.
Die Wende brachte die Entdeckung von Frederick G. Banting und Charles H. Best im Jahr 1921. 1922 retteten sie in einem kanadischen Hospital den ersten Diabetes-Patienten. Seit Februar 1923 wurde Insulin auch in Dänemark hergestellt. Damit gehörte das Land zu den ersten drei europäischen Nationen, in denen Ärzte Insulin einsetzte. Auch Bruun ließ sich damit behandeln. Doch es wurde ihm zum Verhängnis, dass die neue Behandlungsmethodik sich in Frankreich und in Italien noch nicht durchgesetzt hatte.
Bruun ließ sich seinen gewohnten Winterurlaub in Monte Carlo nicht nehmen. Das Insulin wurde ihm regelmäßig zugeschickt. Doch im November 1923 ging das Paket verloren. Die italienischen Ärzte weigerten sich, Ersatz zu beschaffen. Diese Weigerung kostete Bruun das Leben. Er verstarb an einem diabetischen Schock am 21. November 1923 im Alter von 72 Jahren. Sein Leichnam wurde nach Gentofte überführt, wo er am 27. Dezember 1923 in der Familiengruft beigesetzt wurde.