Greifbare Zeichen – Zeugnisse von Religiosität aus einer anderen Zeit: Teil 1
Am 16. Oktober 2014 wird in München bei Gorny & Mosch in Auktion 226 die Sammlung Werner Jaggi (1927-2002) versteigert. Der große Kenner der religiösen Kunst vor allem des Alpenraums trug in mehreren Jahrzehnten die größte Sammlung von numismatischen Zeugnissen religiösen Denkens und Tuns zusammen, die jemals auf den Markt gekommen ist. Uns ist mit der Erklärung der Welt durch die Naturwissenschaften das Verständnis abhanden gekommen für die bedingungslose Gläubigkeit, die in diesen Objekten zum Ausdruck kommt. Und so wird mancher nicht mehr verstehen, was ein Gnadenpfennig oder Amulett seinem Träger einst bedeutet haben mag.
Künstlerische Darstellung von Benjamin Franklins Experiment aus dem Jahre 1752, in welchem er einen Drachen an einem Draht in eine Gewitterwolke aufsteigen ließ.
1749 konstruierte Benjamin Franklin den ersten Blitzableiter. 1859 veröffentlichte Charles Darwin sein Buch „Über die Entstehung der Arten“. Und 1876 beschrieb Robert Koch zum ersten Mal die Rolle der Bakterien beim Entstehen einer Krankheit. Wissenschaftler wie sie erklärten dem modernen Menschen seine Welt, ließen ihn Unwetter und Krankheit zwar noch nicht besiegen, aber wenigstens verstehen. Damit initiierten sie eine radikale Veränderung des Weltbildes, die zum modernen, von der Ratio geprägten Menschen führte, für den Religion und Jenseitsvorstellungen häufig nicht mehr als ein Lifestyle sind.
Bis weit ins 19. Jahrhundert hinein hatten sich alle Menschen – Handwerker, Bauern und Adlige gleichermaßen – einem ungewissen Schicksal ausgeliefert gefühlt. Das Leben konnte jederzeit zu Ende sein. Ein Gewitter vernichtete die Ernte und verursachte Hungersnöte. Eine Seuche kostete das Leben der Familie. Hilfe war nur von den himmlischen Mächten, Sicherheit nur im Jenseits zu erwarten. Das ließ den Menschen macht- und hilflos. Doch natürlich suchte der Bedrängte einen Weg, selbst in einer Notlage tätig zu werden. Er ging auf Wallfahrt oder gelobte eine heilige Reise, eine finanzielle Spende, um so der Gnade teilhaftig zu werden – übrigens nicht nur im katholischen Glauben.
Gnadenkapelle in Altötting. Rundgang mit Votivbildern. Foto: Martin Wimmer / http://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0
Wenn wir heute das Wort Wallfahrt hören, kommen uns vor allem die großen Pilgerziele des Mittelalters in den Sinn: Jerusalem, Santiago, Rom. Doch für den Menschen des Barock standen lokale Wallfahrtszentren im Mittelpunkt, die von den Protagonisten der Gegenreformation systematisch ausgebaut wurden. Statt des großen, einmaligen Erlebnisses, das sich nur eine Elite unter den Gläubigen leisten konnte, wurde eine umfassende Infrastruktur geschaffen, die auch dem gewöhnlichen Gläubigen oft mehrmals im Jahreslauf eine kleine religiöse Auszeit ermöglichte. Noch heute findet man in katholischen Gegenden ein dichtes Netz von prachtvoll geschmückten Wallfahrtskirchen mit einem Gnadenbild sowie einer dazu passenden Infrastruktur mit Gasthaus und Andenkengeschäften. Andechs, Ottobeuren und Waldsassen, Mariazell, Maria Taferl und Maria Einsiedeln, Loreto, Montecassino und Subiaco, sie alle verbindet die jahrhundertelange Verehrung, die Gläubige hier dem Überirdischen zollten. Tausende von Votivbildern zeugen noch heute in diesen Wallfahrtskirchen von Bitte und Dank, von Gefahr und Rettung.
Eine andere Quelle für diesen Teil unserer Kulturgeschichte sind Anhänger, Amulette, Kreuze et cetera, wie sie als Andenken und Talisman in den vielen Läden vor der Wallfahrtskirche gekauft werden konnten.
Diese Gnadenpfennige wurden in Mengen geprägt. Häufig weihte man sie explizit im Gottesdienst und setzte sie damit sozusagen „in Kraft“. Sie zeigen meist das Kultbild der Wallfahrt. Durch ihre exakten Darstellungen sind sie hervorragende Zeugnisse der Lokalgeschichte. Durch die Illustrationen von ganz speziellen Glaubensinhalten, Mythen und Legenden geben sie Einblick in eine Vergangenheit, über die in der nicht-kirchlichen Geschichtsschreibung kaum etwas zu finden ist.
Eine Öse oder Lochung macht diese Unterform der religiösen Medaille tragbar. Und getragen wurden diese Stücke, gelegentlich um den Hals, viel häufiger aufgenäht am Hute oder an der Kleidung. Sie waren sichtbarer Beweis für die Frömmigkeit eines Menschen nach außen und Selbstversicherung des Gläubigen für die Unterstützung der himmlischen Mächte.
Die Sammlung Werner Jaggi vereint vorwiegend europäische Gnadenpfennige aus vier Jahrhunderten. Sie sind einem sehr speziellen Heiligen geweiht oder beziehen sich auf eine bestimmte Wallfahrt. Und sie geben ein Zeugnis von der Lebendigkeit der nachreformatorischen Frömmigkeit und Heiligenverehrung in den katholischen Gebieten, die den Menschen Stütze und Halt im Leben war, ehe die Aufklärung die Moderne einläutete.
Deutschland
3057: Hl. Leonhard von Noblat. Silberanhänger, hochoval, signiert AT. Bayern, 18. Jh., nach der Art der Werkstatt Seel. Unter einem Baldachin der Heilige mit Krummstab und Ketten, unten seitlich der Zacharias- und der Benediktussegen. Rv. Der rechts reitende hl. Martin trifft auf einen Bettler am Wegesrand. 40,4 x 33,5 mm. Fast sehr schön. Schätzung: 75 Euro.
Der hl. Leonhard ist in Altbayern heute noch bekannt wegen der farbenfrohen Leonhardi-Ritte, wie sie in über 50 Gemeinden Bayerns regelmäßig stattfinden. Er wird in Bayern seit dem 11. Jahrhundert als Nothelfer angerufen, der vor allem für das Vieh zuständig ist.
Der hl. Leonhard soll einer Biographie aus dem 11. Jahrhundert gemäß ein Zeitgenosse des merowingischen Königs Chlodwig gewesen sein. Immer wieder setzte sich der junge Leonhard beim König für die Freilassung von Gefangenen ein. Durch Wunderzeichen – er soll die Ketten von Gefangenen zum Zerspringen gebracht haben – überzeugte er den Herrscher. Sein Attribut, die Ketten, gehen auf diesen Mythos zurück. Den Bischofsstab verdankt er der Erzählung, er habe die Bischofswürde zurückgewiesen, um sich stattdessen als Eremit in eine Zelle zurückzuziehen.
Der daneben abgebildete Zachariassegen diente als Abwehrzauber vor allem gegen die Pest, aber auch gegen Hexerei und Unwetter. Er wurde häufig mit dem Benediktussegen kombiniert, den besonders das niederbayerische Kloster Metten propagierte, seit 1647 sechs der Hexerei angeklagte Frauen ausgesagt hatten, sie hätten nichts gegen dieses Kloster unternehmen können, da es durch den darin aufbewahrten Benediktussegen zu stark geschützt gewesen sei.
3157: Ebersberg, Kloster St. Sebastian. Silbergussanhänger vergoldet. Augsburg (?), Ende 17. / Anfang 18. Jh., von Philipp Heinrich Müller. Brustbild des hl. Sebastian von vorne, in seinem Gewand zwei Pfeile. Rv. Nimbiertes Brustbild des hl. Ignatius von Loyola n. l., den sein Titel als Gründer der Jesuiten auszeichnet. Am Armabschnitt Künstlersignatur. 25,1 mm. Slg. Peus cf. 439. Sehr selten. Schön bis sehr schön. Schätzung: 100 Euro.
Die Geschichte Ebersbergs als Wallfahrtszentrum haben selbst die benachbarten Münchner vergessen. Doch die berühmte Reliquie, eine Hirnschale des Märtyrers und Pestheiligen Sebastian, die der erste Propst im 10. Jahrhundert von einer Romreise mitbrachte, zog noch im Barock Tausende von Pilgern an. Dem Patron der Kirche ist die Vorderseite dieses Gnadenpfennigs gewidmet. Noch interessanter ist die Rückseite, die das Porträt des Ignatius von Loyola zeigt. Seine Jesuiten waren die Speerspitze der Gegenreformation. Sie waren 1595 von ihrem großen Förderer Wilhelm V. betraut worden, den alten Benediktinerkonvent von Ebersberg zu ersetzen und die Wallfahrt des hl. Sebastian gehörig zu propagieren.
3161: Erding. Wallfahrtskirche hl. Blut. Silberanhänger, hochoval, Ende des 17. Jh., im Stile der Arbeiten der Salzburger Werkstatt Seel. Der leidende Heiland im Strahlenkranz mit Dornenkrone, aus seinen fünf Wunden fließt Blut, das sich in einer Schale sammelt, die auf einem mit IHS-Emblem beschrifteten Sockel steht. Rv. Auf dem Boden stehende Schale mit aufgehäuftem Erdreich, darüber das strahlende IHS-Emblem. 39,38 x 34,5 mm. Slg. Peus -. Och S. 162f., Nr. 90. Sehr schön bis vorzüglich. Schätzung: 150 Euro.
Während das Erdinger Weißbier heute weltbekannt ist, wissen die wenigsten, dass es in Erding einst eine blühende Wallfahrt zum Heiligen Blut gab. Unter diesem Namen kannte man eine Statue des leidenden Christus, die mit einem Hostienwunder verbunden wurde: Ein reicher und ein armer Bauer gingen im Jahr 1417 zur Kommunion. Der reiche Bauer erzählte dem armen auf dem Wege, dass er all seinen Reichtum einer geweihten Hostie verdankte, die er in seiner Truhe aufbewahre. Der arme Bauer nahm sich das zum Vorbild. Er plante, die Hostie der Kommunion nicht zu schlucken, sondern selbst als Talisman für den eigenen Wohlstand nach Hause zu bringen. Natürlich ging die Sache schief: Die Hostie soll nach der frühesten Erzählung von selbst aus dem Munde des Mannes geschwebt sein, um vor den Augen aller zu verschwinden. Spätere Quellen erzählen, dass die Hostie in der Erde versunken sei – wie auf unserem Gnadenpfennig dargestellt, und man aus Sühne die Wallfahrtskirche errichtet habe.
Viel wichtiger als die Legende ist der Grund, warum sie so eifrig propagiert wurde. In ihr konnte man nämlich auf volkstümliche Art und Weise gleich gegen zwei Dinge angehen. Da war zum einen die Diskussion über die Transsubstantiationslehre, die man mit den Reformierten führte. Während sich die Hostie in den Augen der Katholiken in Christi Leib selbst verwandelte (damit zu solchen Wundern fähig war und als leidender Heiland in der Kirche von Erding verehrt wurde), stritten die Protestanten dies vehement ab. Für sie war die Hostie ein Zeichen, aber nicht das Heilige selbst.
Gleichzeitig konnte man die Geschichte hervorragend in Predigten gegen den von der offiziellen Kirche intensiv bekämpften Aberglauben einsetzen, der sich um geweihte Objekte rankte. Der leidende Christus ließ sich eben nicht durch Talismane und Zauberei zwingen, so die Botschaft.
3189: Taxa. Kloster Maria Stern. Silbergussanhänger, hochoval von Philipp Heinrich Müller, Augsburg, 17./18. Jh. Über der Klosteranlage, zu der Pilger unterwegs sind, die bereits vor den Toren durch ein großes Kruzifix, einen Wiesenaltar und Fahnen begrüßt werden, schwebt das Gnadenbild von Maria Stern. Unten teilt das Ei auf dem Ziegel die Jahreszahl 1618, das Jahr, in dem es mit der lokalen Wallfahrt begann. Rv. Der hl. Nikolaus von Tolentino kniet vor der auf Wolken schwebenden Jungfrau mit Kind, die ihm einen Kranz reicht; seitlich Künstlersignatur. Beierlein (Bayerische Klöster) I, 237. Sehr schön. Schätzung: 150 Euro.
1606 tat Hans Wilhelm Hundt (1560-1630), Herr auf Sulzemoos und Odelzhausen, ein Gelübde. In Seenot geraten, gelobte er, sofort eine Kapelle zu Ehren der Muttergottes zu bauen, sollte er das Ufer sicher erreichen. Als er glücklich ankam, war das Gelübde sofort vergessen, bis ihn 10 Jahre später eine Henne an sein Versprechen erinnerte. Sie legte – wie die Schrift des bekannten Wanderpredigers Abraham a Sancta Clara mit dem interessanten Titel „Gack, Gack, Gack, Gack, a Ga“ mitteilt – ein besonderes Ei auf einen nagelneuen Ziegelstein, das das Bild der Muttergottes im Strahlenkranz trug.
An dieses Wunder erinnert nicht nur die Darstellung auf der Vorderseite unseres Amuletts, sondern auch das heute noch verwendete Wappen der Gemeinde Odelzhausen, wo die zugehörige Kapelle steht.
Die Stadtväter konnten der Henne auch durchaus dankbar sein, denn wie auf dem Amulett zu sehen, kamen von nah und fern Pilger in großen Mengen in die Gemeinde. Bereits 1654 wurde die kleine Kapelle durch eine barocke Wallfahrtskirche ersetzt und den Augustinerbarfüßern zur Betreuung übergeben.
Deshalb ist der hl. Nikolaus von Tolentino auf der Rückseite des Anhängers zu sehen. Er war der erste Augustiner, der kanonisiert wurde. Papst Eugen IV. (ebenfalls ein Augustiner) konnte im Jahre 1446 auf nicht weniger als 300 Wunder (mit mindestens 3 Auferweckungen von den Toten) zurückgreifen. Er war ein Heiliger, wie ihn die Gegenreformation liebte: Im Alter von 16 trat er in den Augustiner-Orden ein. Persönlich bescheiden und mildtätig, betrieb er wortgewaltig die Bekehrung der Sünder mit drastischen Beschreibungen der Strafen im Jenseits. Seine in Visionen empfangenen Botschaften aus dem Fegefeuer waren derart eindrucksvoll, dass ihn Leo XIII. im Jahr 1884 zum Schutzheiligen der Seelen im Fegefeuer erklärte. Mit den Augustiner-Mönchen verbreitete sich der Kult des hl. Nikolaus von Tolentino auch nach Süddeutschland, wo er heute ein Schutzheiliger Bayerns ist.
Die Predigt eines weiteren Augustiners, des schon erwähnten Abraham a Sancta Clara, machte Kloster Taxa weithin bekannt, so dass das Kloster mit der Zeit über 184 Tagwerk Wald und 19.400 Gulden Kapital verfügte. Natürlich weckte dieser Besitz Begehrlichkeiten von Seiten des Staates. Taxa wurde 1802 säkularisiert; Kloster und Kirche abgerissen.
Den vollständigen Auktionskatalog finden Sie online auf der Seite des Auktionshauses Gorny & Mosch.
In einem zweiten Teil werden wir Objekte Österreich, der Schweiz und Italien vorstellen.