Agrippina: Skrupellose Mörderin oder Rollenmodell?
Am 1. und 2. Oktober 2020 findet die Auktion Künker 341 statt. Sie enthält unter anderem eine große Auswahl an Münzen mit dem Porträt der Agrippina. Wenn wir uns deren Botschaft genau ansehen, dann sollten eigentlich Zweifel entstehen, ob Agrippina tatsächlich ihren schlechten Ruf verdiente.
Casus suorum
Wie anders würde unser Bild von Agrippina der Jüngeren heute aussehen, hätte das von ihr verfasste Geschichtswerk überlebt, das den Titel casus suorum – frei übersetzt: das Schicksal ihrer Familie – trug. Leider besitzen wir es nicht. So sind wir auf das Zeugnis von Männern angewiesen, wenn wir Agrippinas Leben rekonstruieren wollen. Was heißt Männer? Diese Männer waren Senatoren, die immer noch beleidigt auf die Tatsache reagierten, dass sie in der neuen Staatsform des Prinzipats auf die Kaiserfamilie angewiesen waren, um ihre Machtspielchen zu entfalten.
Und da gab es nun diese leibliche Großenkelin des Augustus, die nicht nur schön, sondern auch intelligent war und sich allen Hindernissen zum Trotz im Kampf um die höchste Macht durchsetzte. Spüren wir also dieser Geschichte nach, und zwar ohne das, was Tacitus und Sueton geschrieben haben, für mehr zu halten als es war: Üble Nachrede.
Urenkelin eines Kaisers
Am 6. November des Jahres 14, 15 oder 16 n. Chr. wurde Agrippina im Oppidum Ubiorum, dem späteren Köln geboren. Und damit war ihr Schicksal besiegelt, denn sie stammte über die väterliche und die mütterliche Seite von Augustus ab. Ihre Mutter Agrippina die Ältere war eine leibliche Enkelin des ersten Kaisers. Ihr Vater Germanicus war der Enkel der Schwester des Augustus. Mit so einem Stammbaum wurde man, so man männlichen Geschlechts war, Kaiser, so man weiblichen Geschlechts war, ein Spielball der Heiratspolitik.
So auch Agrippina. Tiberius verheiratete sie im Alter von vierzehn Jahren – im besten Falle, sie könnte auch zwölf gewesen sein – mit einem 44jährigen Senator. Ihm gebar sie ihren einzigen Sohn, den späteren Kaiser Nero.
Schwester eines Kaisers
Im Jahr 37 n. Chr. bestieg Caligula, Bruder der Agrippina, den Kaiserthron. Die Senatoren bejubelten den jungen Mann als ihren großen Hoffnungsträger. Wie schnell sahen sie sich enttäuscht! Die senatorischen Geschichtsschreiber erklärten ihre anfängliche Unterstützung des späteren „Scheusals“ mit einer geheimnisvollen Krankheit, die ganz plötzlich den Charakter des jungen Kaisers verändert habe.
Ganz anders Agrippina. Sie tat sich mit ihrer Schwester und dem Ehemann ihrer gerade verstorbenen dritten Schwester zusammen, um den wahnsinnigen Bruder zu ermorden. Der Plan misslang und Agrippina wurde auf eine der Pontischen Inseln verbannt. Es wäre Rom viel erspart geblieben, wenn die drei Erfolg gehabt hätten. Vielleicht handelten sie nicht aus Ehrgeiz, wie ihnen selbst heute noch zahlreiche Historiker unterstellen, sondern aus Verantwortungsgefühl gegenüber Rom.
Gattin eines Kaisers
Claudius, der Onkel Agrippinas, rief sie kurz nach seinem Regierungsantritt aus dem Exil zurück. Die Geschichtsschreibung weiß schon lange, dass dieser Kaiser nicht der weltfremde Volltrottel war, als den ihn die senatorische Geschichtsschreibung hinzustellen versuchte. Zu deutlich wird die Tatsache, dass es einem Tacitus oder einem Sueton peinlich war, dass der vom Senat gekürte Caligula ein Tyrann, der von den Soldaten zum Kaiser gemachte Claudius ein tüchtiger Herrscher war. Und dann war Claudius intelligent genug, dass er sich lieber auf fähige Freigelassene stützte als auf selbstverliebte Senatoren.
Einer seiner fähigsten Mitarbeiter war Marcus Antonius Pallas, der die kaiserlichen Finanzen verwaltete. Er schlug Claudius vor, seine verwitwete Nichte Agrippina zu heiraten – wenn wir den würdigen Senatoren glauben, natürlich nur weil Agrippina mit dem ehemaligen Sklaven geschlafen hatte. Und der dämliche Claudius soll von ihrer einzigartigen Schönheit geblendet gewesen sein…
Sieht man sich die Tatsachen genauer an, stellt man fest, dass es durchaus auch eine andere Deutung gibt: Das römische Volk hatte anlässlich einer Veranstaltung im Rahmen der Saecularspiele des Jahres 47 Agrippina und ihren Sohn bejubelt, und dabei war ihr Beifall deutlich lauter ausgefallen als für die kaiserliche Gattin Messalina und ihren Sohn Britannicus.
Zudem war Agrippina enger mit Augustus verwandt als Claudius selbst. Seine Ehe mit Agrippina, die am Neujahrstag des Jahres 49 n. Chr. geschlossen wurde, war also ein echter PR-Coup für Claudius, den er zur Steigerung seiner Popularität zu nutzen wusste. Dafür gibt es ein unabhängiges Zeugnis: Die Münzen. Warum hätte Claudius eine so umfangreiche Münzprägung mit dem so prominenten Porträt der Agrippina in Umlauf setzen sollen, wenn es ihm nicht die Akzeptanz von Bürgern und Soldaten gebracht hätte? Immerhin war die Einbeziehung der lebenden Kaiserin ins Münzbild etwas, das vor Claudius kein römischer Herrscher getan hatte!
Ein weiterer Vorteil der Ehe für Claudius war die Tatsache, dass Agrippinas Sohn zum Zeitpunkt der Eheschließung bereits 11 Jahre alt war. Er hatte also nur noch drei Jahre bis zur Erreichung der Volljährigkeit, während der leibliche Sohn des Claudius Britannicus erst sieben Jahre zählte. Claudius kränkelte, und er wusste als Historiker genau, welches Elend der römische Bürgerkrieg nach der Ermordung Caesars gebracht hatte. Er wollte keinen neuen Bürgerkrieg, und Nero, immerhin ein leiblicher Ururenkel des Augustus, war seine Rückversicherung dagegen. Deshalb propagierte er Nero als seinen Nachfolger und stellte ihn auf vielen Münzen seinem Volk vor.
Wir dürfen Claudius für intelligent genug halten, dass er wusste, was er tat, als er Nero adoptierte, und damit in der Thronfolge vor Britannicus setzte, der wegen seiner Abstammung von einer wegen Ehebruchs hingerichteten Mutter vielleicht nicht ganz unumstritten war.
Wäre Agrippina die intrigante Giftmischerin gewesen, als die sie uns die Senatorenschicht beschrieben hat, hätte sie sicher einen anderen Lehrer für den zukünftigen Kaiser Nero gewählt, als ausgerechnet den stoischen Philosophen Seneca. Sie rief ihn zu diesem Zweck eigens aus der Verbannung zurück. Er sollte es ihr nicht danken.
Mutter eines Kaisers
Am 13. Oktober 54 starb Claudius, nachdem er während eines Banketts ein Pilzgericht zu sich genommen hatte. Natürlich unterstellt man Agrippina, sie habe ihn vergiftet. Damit war er übrigens ihr siebtes Opfer, jedenfalls wenn wir den römischen Geschichtsschreibern glauben wollen.
Die Herrschaftsübergabe lief ohne Probleme ab. Agrippina leitete im Einverständnis mit ihrem Sohn die Regierung. Und das war für jeden römischen Senator ein Skandal. Sie war eine Frau! Disgusting! Uns ist überliefert, was dann geschah: Nero verliebt sich in die Freigelassene Acte, eine Affäre, die Seneca nach besten Kräften unterstützte. Die sittenstrenge Agrippina versuchte nämlich mit der geballten mütterlichen Autorität den aufmüpfigen Nero dazu zu bringen, sich stattdessen um seine Ehefrau Octavia zu kümmern.
Es kam, wie es kommen musste: Der pubertierende Nero grenzte sich von seiner Mutter ab und wandte sich Seneca und Burrus zu. Die schalteten und walteten in den nächsten Jahren, wie es ihnen beliebte. Zu ihren Opfern gehörte auch Pallas, der ehemalige Finanzminister von Claudius. Merkwürdigerweise wuchs in den nächsten vier Jahren das Privatvermögen des Seneca um 300 Millionen Sesterze. Er nutzte eben die Gunst Neros, und sogar seine Standesgenossen waren dagegen machtlos: Seneca wurde – wie einst Verres – im Senat wegen seiner skrupellosen Ausbeutung der Provinzen angeklagt und ging straffrei aus, während sein Ankläger ins Exil musste.
Seneca dankte es Nero, indem er ihn bei der Ermordung seiner Mutter mit Rat und Tat zur Seite stand und noch die offizielle Mitteilung für den Senat über deren Tod verfasste.
Keine Frau kann es Agrippina übel nehmen, dass „die beste Mutter“ – diese Parole hatte Nero den Soldaten am Tag seines Regierungsantritts genannt – ihren von Nero beauftragten Mörder aufforderte, sein Schwert in ihren Leib zu rammen, um so den Körperteil zu zerstören, der ihren Sohn hervorgebracht hatte.
Hier lesen Sie den Auktionsvorbericht zu Künkers Herbstauktion, in der diese Münzen angeboten werden.