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Woher stammte das Silber im frühmittelalterlichen Europa?

Eine neue Studie zeigt, dass die explosionsartige Verbreitung von Silbermünzen in Europa ab der Mitte des 7. Jahrhunderts vor allem durch byzantinischem Silber vorangetrieben wurde. Hundert Jahre später stammte das meiste vermünzte Silber bereits aus einem Bergwerk im Frankenreich Karls des Großen. Diese Ergebnisse könnten unser Verständnis der wirtschaftlichen und politischen Entwicklung Europas verändern.

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Professor Rory Naismith mit einer byzantinischen Silbermünze im Fitzwilliam Museum. Foto: Adam Page.

Professor Rory Naismith mit einer byzantinischen Silbermünze im Fitzwilliam Museum. Foto: Adam Page.

In den Jahren von 660 bis 750 nach Christus erlebte England eine massive Wiederbelebung des Handels, die mit einem drastischen Anstieg der Verwendung von Silbermünzen einherging. Das bedeutete auch eine Abkehr von der Abhängigkeit von Gold als Zahlungsmittel. Etwa 7.000 solcher silbernen „Pennies“ sind dokumentiert – das ist eine vergleichsweise große Zahl, denn damit liegen für die Jahre von 660 bis 750 genauso viele dieser Münzen vor wie für den Rest der angelsächsischen Periode (dem Zeitraum vom 5. Jahrhundert bis zum Jahr 1066).

Seit Jahrzehnten zerbricht sich die Forschung den Kopf darüber, wo das Silber für diese neuen Münzen herkam. Nun konnte ein gemeinsames Forschungsteam der Universitäten Cambridge, Oxford und der Vrije Universiteit Amsterdam das Rätsel lösen, indem die Forscher die Metallzusammensetzung von Münzen aus dem Fitzwilliam Museum in Cambridge analysierten.

Ihre Studie wurde im April 2024 in der Fachzeitschrift Antiquity veröffentlicht. Rory Naismith, einer der Autoren und Professor für frühmittelalterliche englische Geschichte an der Universität Cambridge, erklärt: „Es wurde spekuliert, dass das Silber aus dem französischen Melle oder aus einem unbekannten Bergwerk stammen könnte – oder dass es sich um eingeschmolzenes Silber der Kirche handeln würde. Doch es gab keine stichhaltigen Beweise, mit denen eine dieser Theorien hätte verifiziert werden können. Also haben wir uns auf Spurensuche begeben.“

Frühere Forschungsansätze hatten Münzen und Artefakte mit Silber aus den Silberminen von Melle analysiert. Doch Naismith und sein Team konzentrierten sich auf weniger untersuchte Münzen, die in England, den Niederlanden, Belgien und Nordfrankreich geprägt wurden. Besonders hilfreich war, dass Naismith ein wichtiges Zentrum für frühmittelalterliche numismatische Forschung gleich vor seiner Haustür hatte: das Fitzwilliam Museum.

Zunächst wurden 49 Münzen des Fitzwilliam Museums aus der Zeit von 660 bis 820 n. Chr. zur Analyse von Spurenelementen in das Labor von Dr. Jason Day im Institut für Geo-Wissenschaften der Universität Cambridge gebracht. Anschließend wurden die Münzen mittels „mobiler Laserablation“ untersucht. Dabei wurden mikroskopische Proben auf Teflonfiltern für die Blei-Isotopenanalyse gesammelt. Dies ist eine neues, von der Vrije Universiteit Amsterdam entwickeltes Verfahren, das die minimalinvasive Entnahme von Laserproben mit den hochpräzisen Ergebnissen herkömmlicher Methoden kombiniert, bei denen physische Silberproben entnommen werden.

Die Münzen enthielten zwar überwiegend Silber, aber der Anteil von Gold, Wismut und anderen Elementen führte die Forscher zu den bisher unbekannten Ursprüngen des Silbers. Verschiedene Verhältnisse von Blei-Isotopen in den Silbermünzen lieferten weitere Hinweise. Die Analyse führte zu zwei wichtigen Erkenntnissen:

In Sutton Hoo entdeckte byzantinische Silberschalen, ausgestellt im British Museum. Foto: Amanda Slater via Flickr / CC BY-SA 2.0

In Sutton Hoo entdeckte byzantinische Silberschalen, ausgestellt im British Museum. Foto: Amanda Slater via Flickr / CC BY-SA 2.0

Byzantinisches Silber

29 der untersuchten Münzen des früheren Zeitraums (660 – 750 n. Chr.) – die in England, Friesland und dem Frankenreich geprägt wurden – wiesen eine sehr eindeutige chemische und isotopische Signatur auf, die mit dem Silber aus dem byzantinischen Reich im östlichen Mittelmeerraum aus dem 3. bis frühen 7. Jahrhundert übereinstimmt.

Die Münzen wiesen sehr ähnliches Silber auf, dass sich durch hohe Goldanteile (0,6 – 2 Prozent) auszeichnet. Auch die Isotopenspanne war einheitlich, ohne erkennbare regionale Unterschiede. Keine bekannte europäische Erzquelle passt zu den elementaren und isotopischen Merkmalen dieser frühen Silbermünzen. Außerdem gibt es auch keine bedeutenden Überschneidungen mit spätrömischen Silbermünzen oder anderen Objekten. Diese Münzen wurden also nicht aus recyceltem spätrömischen Silber hergestellt.

Naismith meint: „Das war eine wirklich spannende Entdeckung. Ich hatte schon vor einem Jahrzehnt die Vermutung angestellt, dass das Silber aus Byzanz kommen könnte. Doch ich hatte keine Beweise. Jetzt haben wir die erste archäometrische Bestätigung dafür, dass byzantinisches Silber die wichtigste Quelle für den großen Anstieg der Münzprägung und des Handels im Nordseeraum im siebten Jahrhundert war.“

Die Forscher betonen, dass dieses byzantinische Silber bereits Jahrzehnte vor dem Einschmelzen nach Westeuropa gelangt sein muss, da das späte 7. Jahrhundert ein Tiefpunkt für Handel und diplomatische Beziehungen darstellte.

Naismith erklärt: „Die Oberschicht Englands und des Frankenreichs besaß das Silber mit ziemlicher Sicherheit zu diesem Zeitpunkt bereits. Es gibt sehr berühmte Beispiele dafür, wie die bei Sutton Hoo gefundenen Silberschalen oder die verzierten Silberobjekte aus dem Staffordshire Hoard.“

Zusammen wiegen die byzantinischen Silbergegenstände von Sutton Hoo gut 10 Kilo. Wären sie eingeschmolzen worden, hätte man damit etwa 10.000 frühmittelalterliche Pennies produzieren können.

Die Hauptautorin der Studie, Dr. Jane Kershaw von der Universität Oxford, erklärt: „Diese wunderschönen Statusobjekte wurden nur eingeschmolzen, wenn ein König oder Herrscher in dringender Geldnot war. Es muss also etwas Großes passiert sein, ein bedeutender gesellschaftlicher Wandel.“

Naismith hofft, herausfinden zu können, wie und warum so viel Silber aus dem Byzantinischen Reich nach Westeuropa gelangte. Er vermutet eine Mischung aus Handel, diplomatischen Zahlungen und angelsächsischen Söldnern, die in der byzantinischen Armee dienten. Die neuen Ergebnisse werfen auch spannende Fragen darüber auf, wie und wo das Silber gelagert wurde und warum seine Besitzer plötzlich beschlossen, es in Münzen umzuwandeln.

Eine Auswahl der untersuchten Münzen aus dem Fitzwilliam Museum, darunter auch Münzen von Karl dem Großen und Offa. © The Fitzwilliam Museum, University of Cambridge.

Eine Auswahl der untersuchten Münzen aus dem Fitzwilliam Museum, darunter auch Münzen von Karl dem Großen und Offa. © The Fitzwilliam Museum, University of Cambridge.

Der Aufstieg des Fränkischen Silbers

Die zweite wichtige Erkenntnis der Studie zeigt, dass das byzantinische Silber zu einem späteren Zeitpunkt durch Edelmetall anderen Ursprungs abgelöst wurde.

Als das Forschungsteam 20 Münzen aus der zweiten Hälfte des Untersuchungszeitraums (750 bis 820 n. Chr.) analysierte, fiel auf, dass dieses Silber eine ganz andere Zusammensetzung hatte. Es enthielt nur einen geringen Goldanteil – ein typisches Merkmal für die Silberminen im westfranzösischen Melle. Zuvor hatten Untersuchungen zur Radiokohlenstoffdatierung ergeben, dass die Silberförderung in Melle im 8. und 9. Jahrhundert besonders umfangreich war. Zu den analysierten späteren Münzen gehören eine Münze von Pippin III. (747–68), fünf Prägungen von Offa von Mercia (757–96), zwei Münzen Karls des Großen (792/3–814), die dänische Imitation einer Münze Karls des Großen, sieben Prägungen von Ludwig dem Frommen (814–822/3), und fünf Münzen von Coenwulf von Mercia (796–821).

Die Studie geht davon aus, dass das Silber aus Melle ab etwa 750 n. Chr. in regionale Silbervorräte gelangte und sich mit älteren Silberbeständen mit höherem Goldgehalt – einschließlich byzantinischem Silber – vermischte. In den Münzen, die in unmittelbarer Nähe von Melle geprägt wurden, ist der Goldanteil am geringsten (unter 0,01 %), und in den am weitesten von Melle entfernten Gebieten (im nördlichen und östlichen Frankenreich) mit bis zu 1,5 % am höchsten.

Die Minen von Melle waren eine wichtige Silberquelle des Frankenreichs und sind heute noch zu besichtigen. Foto: Jacques Bodin via Flickr / CC BY 2.0.

Die Minen von Melle waren eine wichtige Silberquelle des Frankenreichs und sind heute noch zu besichtigen. Foto: Jacques Bodin via Flickr / CC BY 2.0.

Die Forschung wusste bereits zuvor, dass Melle wichtig für die Silberförderung war. Doch es war nicht bekannt, wie schnell sich diese Minen zu einem der wichtigsten Akteure in der Silberproduktion entwickelten.

Naismith erklärt: „Wir wissen nun, dass Melle eine wichtige Rolle im ganzen Frankenreich und zunehmend auch in England einnahm, nachdem die Karolinger 751 an die Macht kamen.“

Die Studie stellt die These auf, dass Karl der Große diesen sehr plötzlichen und umfangreichen Boom des Melle-Silbers vorantrieb, da er zunehmend die Kontrolle darüber übernahm, wie und wo die Münzen seines Reiches hergestellt wurden. In einem ausführlichen Bericht aus den 860er Jahren ist die Rede davon, wie der Enkel Karls des Großen, König Karl der Karle, sein Münzwesen reformierte und jeder Münzstätte einige Pfund Silber als Starthilfe gab. „Ich gehe stark davon aus, dass Karl der Große etwas Ähnliches mit dem Silber aus Melle gemacht hat“, erklärt Naismith.

Die Verwaltung der Silberbestände ging Hand in Hand mit anderen Münzreformen, die Karl der Große, sein Sohn und sein Enkel durchsetzen. Diese betrafen auch die Größe und Dicke der Münzen sowie die Nennung des Herrschernamens die Abbildung ihres Porträts.

Naismith erklärt: „Wir wissen nun mehr über die Umstände, in denen diese Münzen produziert wurden, und darüber, wie das Silber im Reich Karls des Großen und darüber hinaus verteilt wurde.“

Bei diesem Text handelt es sich um eine gekürzte Übersetzung. Für mehr Details, beispielsweise über das Verhältnis zwischen Offa und Karl dem Großen, lesen Sie die englische Meldung hier.

In diesem Film erfahren Sie mehr über die Münzprägung in Melle:

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Hier spricht Rory Naismith zu den Erkenntnissen seiner Studie:

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