Alarmstufe Rot im British Museum
von Björn Schöpe
Für das British Museum ist der Albtraum eines jeden Museums wahr geworden: Tausende Objekte sind verschwunden, wie viele genau, weiß niemand. Die meisten davon waren anscheinend nicht inventarisiert und wurden online zu Schnäppchenpreisen verhökert. Ermittelt wird gegen einen Kurator, Griechenland verlangt seine Parthenon-Skulpturen zurück, um sie in Sicherheit zu bringen, der deutsche Museumsdirektor ist zurückgetreten – und möglicherweise ist das alles nur die Spitze des Eisberges, bei dem es sich schon jetzt um den wohl größten Diebstahl in der Geschichte der Institution handelt.
Inhalt
Verkaufte ein Kurator Objekte des British Museum?
Beginnen wir hinten. Das British Museum hat vor wenigen Wochen Peter Higgs entlassen. Als Kurator war er seit über dreißig Jahren für Objekte aus dem Mittelmeerraum zuständig. Seit zwei Jahren leitete er die gesamte Abteilung des antiken Griechenlands. Das Museum wirft Higgs vor, er habe über Jahre kleinere Objekte online verkauft. Der Daily Telegraph schreibt, bei der Kontrolle eines Lagerraums, in dem sich 942 nicht näher katalogisierte Objekte hätten befinden sollen, habe man bei einer Kontrolle nur noch sieben gefunden. Higgs selbst soll gegenüber der Sunday Times übrigens geäußert haben, in den Magazinen des British Museum herrsche „das reine Chaos“.
Eine Abteilung der Metropolitan Police ermittelt in dem Fall, das British Museum hat selbst eine Untersuchung begonnen. Beides dürfte sich schwierig gestalten, denn offenbar wurden vor allem nichtinventarisierte Objekte verkauft, möglicherweise bis zu zweitausend. In einer Presseerklärung des British Museum heißt es, „der Großteil der verschwundenen Stücke sind kleine Objekte, die in einem Magazinraum einer der Museumssammlungen gelagert waren. Sie umfassen Goldschmuck und Gemmen aus Halbedelsteinen sowie Glas aus unterschiedlichen Epochen vom 15. Jh. v. Chr. bis zum 19. Jahrhundert. Keines der Stücke war in der letzten Zeit ausgestellt, sie wurden alle vor allem zu Studien- und Forschungszwecken aufbewahrt.“
Der Guardian berichtet von Goldmünzen, silbernen Halsketten und 540 Keramikfragmenten, die laut einer ersten Untersuchung seit 2013 aus dem British Museum verschwanden.
Die Times hat in dem Zusammenhang an die Institution eine Anfrage unter den Regelungen zur Informationsfreiheit gestellt, die öffentliche Einrichtungen verpflichtet, bestimmte Informationen freizugeben. Dabei soll das British Museum angegeben haben, dass eine griechische Silbermünze, eine römische Münze aus dem 4. Jahrhundert (es war in den Medien nicht angegeben ob vor oder nach Christus) und eine deutsche Münze in den zwölf Monaten vor April 2014 verschwanden. Unter den Objekten, die in den letzten zehn Jahren verloren gingen, seien ein Ring aus dem frühen 20. Jahrhundert, eine Kette, sowie verschiedene weitere Schmuckobjekte.
Auf Ebay wurden zahlreiche Objekte aus dem British Museum von einem Verkäufer unter Pseudonym angeboten; offenbar bewusst weit unter Marktwert, um „unter dem Radar“ zu bleiben. Ein Fragment eines römischen Onyxkameos sei laut Telegraph bei Ebay für 40 £ angeboten worden; ein Händler habe es auf einen Marktwert von 25.000 £ bis 50.000 £ geschätzt.
Doch wie kam das British Museum darauf, dass es sich bei diesem Verkäufer um seinen angesehenen Kurator Peter Higgs gehandelt haben könnte?
Missachtete das British Museum Warnung eines Kunsthändlers?
Dass das Museum überhaupt auf den Verlust vieler Objekte aufmerksam wurde, geht zurück auf die Ermittlungen des Kunsthändlers und Gemmenspezialisten Ittai Gradel. Gradel hat der Zeitung The Telegraph ausführlich beschrieben, wie er den Skandal aufdeckte. In der Kurzfassung lief es so ab: Gradel kaufte seit Jahren bei einem bestimmten Händler auf Ebay. 2016 sei er misstrauisch geworden. Ein angebotenes Kameofragment schien ihm identisch zu sein mit einem Stück, das in einem Katalog des British Museum von 1926 publiziert worden war. Allerdings hätte es auch vor Jahrzehnten verschwunden sein können, da es in neueren Inventaren nicht mehr auftauchte. Nichts deutete auf einen Diebstahl jüngeren Datums hin. 2020 allerdings bot derselbe Händler wieder ein Kameofragment an, von dem es ein offensichtlich aktuelles Foto auf der Seite des British Museum gab. Gradel begann nun intensiv zu anderen Stücken zu recherchieren, die er bei diesem Händler über die Jahre gekauft hatte. Dabei fand er heraus, dass der Paypal-Account des Händlers zu einem Bankkonto auf den Namen Peter Higgs führte.
Ein kleiner Einschub: Higgs und seine Familie bestreiten diese Vorwürfe und es kam bislang weder zu einer Anklage noch zu einer Festnahme. Die Ermittlungen dauern an, weswegen weder die Polizei noch das British Museum aktuell weitere Details bekanntgeben möchten. Auch wenn das Museum seinen Kurator entlassen hat und ihn als schuldig ansieht, sollten die Medien nicht die Unschuldsvermutung vergessen. Gerade im Internet gibt es viele Möglichkeiten, Accounts zu hacken und zu missbrauchen.
Im Februar 2021 sandte Gradel sein Dossier an Jonathan Williams, den stellvertretenden Direktor des British Museum. Erst fünf Monate später soll Williams geantwortet haben, dass „alle erwähnten Stücke noch vorhanden“ und die Verdächtigungen gegen Higgs „komplett haltlos“ seien. Daraufhin wandte sich Gradel an Mitglieder des Museumskuratoriums. Im Oktober 2022 habe Hartwig Fischer, der Museumsdirektor persönlich, Gradel gegenüber behauptet, die Angelegenheit sei „gründlich untersucht“ worden und man habe „keine Anhaltspunkte, die die Behauptungen stützen“ würden. Gradels Fazit: „Sie behandelten mich wie einen Dorftrottel. Ich vermute, sie fürchteten den Skandal.“
Nachdem das British Museum im Juli 2023 den Vorfall öffentlich machte und offizielle Ermittlungen eingeleitet wurden, beschuldigte Fischer Gradel, die Untersuchungen damals behindert zu haben. Gradel habe nicht deutlich gemacht, dass es sich um so viele Objekte handele, die sich in seinem Besitz befanden: „Es ist frustrierend, dass uns dies nicht mitgeteilt wurde, denn das hätte bei unseren Untersuchungen geholfen.“
Dem widerspricht allerdings die FAZ entschieden: „Fischer scheint die Korrespondenz Gradels, die der F.A.Z. vorliegt, nicht genau gelesen zu haben. Aus den von der Direktion lange nicht beachteten Schreiben geht eindeutig hervor, dass Gradel einen Mitarbeiter verdächtigte, mehr aus der Sammlung entwendet zu haben als die drei Objekte, für die er ausführliche Belege lieferte.“ Das musste mittlerweile auch Fischer einräumen.
Deutschland spekuliert über den Rücktritt von Hartwig Fischer
Am 28. Juli 2023 informierte das British Museum allerdings zunächst, sein Direktor, der bereits mehrfach erwähnte Hartwig Fischer, gebe sein Amt im nächsten Jahr auf, sobald ein Nachfolger feststehe. Der deutsche Kunsthistoriker Fischer ist seit 1827 der erste ausländische Direktor der renommierten Einrichtung. Er trat seine Stelle 2016 an und sollte das Museum in vielerlei Hinsicht reformieren. Diese Projekte wurden jetzt unter dem Titel „Masterplan“ als abgeschlossen bzw. auf den Weg gebracht präsentiert. Fischer selbst erklärte, er freue sich auf neue Aufgaben, bei denen er sich „jenseits der institutionellen Rahmenbedingungen eines einzelnen Museums um die Rettung und Erhaltung von Kulturgut engagieren könne in Zeiten von Klimakrise, Krieg und Gewalt.“
Der Rücktritt des deutschen Wissenschaftlers hat besonders in Deutschland für viele Spekulationen und intensive Berichterstattung gesorgt. Die FAZ merkt an, Fischer habe vor allem geschwiegen, als Osborne, das einstige politische Schwergewicht, mit Griechenland über die Elgin Marbles verhandelte. Diese Marmorfragmente hat Lord Elgin Anfang des 19. Jahrhunderts mit Erlaubnis des osmanischen Sultans von der Athener Akropolis nach England bringen lasse, wo er sie an das British Museum verkaufte. Griechenland verlangt seit langem ihre Rückgabe. Die FAZ vermutet, der Deutsche Fischer habe sich in den oft „uneindeutige(n) Machtstrukturen“ der britischen Museumswelt nicht durchsetzen können.
Einen knappen Monat später, am 25. August, sah sich Fischer gezwungen, seinen Posten mit sofortiger Wirkung aufzugeben. Er sei zu dem Ergebnis gekommen, dass das Museum auf Gradels Hinweise nicht angemessen reagiert habe, wofür er als Leiter persönlich die Verantwortung übernehmen müsse. Außerdem erklärte Fischer, er nehme seine Äußerungen über Gradel zurück und entschuldige sich bei ihm. Er bleibe nur noch im Amt, bis ein Interimsleiter gefunden sei.
Wie geht das British Museum mit dem Verlust von Kulturgütern um?
Die Kommunikation scheint nicht gerade rundgelaufen zu sein beim British Museum. Doch wie geht es jetzt weiter? Der Kuratoriumsvorsitzende George Osborne beschreibt das in einer Presseerklärung vom 16. August 2023: „Wir haben die Polizei eingeschaltet, Sofortmaßnahmen zur Erhöhung der Sicherheit ergriffen, eine unabhängige Untersuchung des Vorfalls und der daraus zu ziehenden Lehren eingeleitet und alle uns zur Verfügung stehenden disziplinarischen Befugnisse genutzt, um gegen die Person vorzugehen, von der wir glauben, dass sie für den Vorfall verantwortlich ist. Unsere Priorität geht nun in drei Richtungen: erstens die gestohlenen Gegenstände wiederzuerlangen; zweitens herauszufinden, was, wenn überhaupt, hätte getan werden können, um den Vorfall zu verhindern; und drittens alles zu tun, was nötig ist – mit Investitionen in die Sicherheit und in die Inventarisierung der Sammlung –, um sicherzustellen, dass so etwas nicht wieder passiert.“
Die politische Dimension des Diebstahls im British Museum
Während man in London um Schadensbegrenzung bemüht ist und niemand genau weiß, welche Leichen im Keller des British Museum bei der Aufarbeitung auftauchen könnten, nutzt Griechenland dieses Debakel für seine eigene Agenda.
Der oben zitierte Kuratoriumsvorsitzende – und frühere Schatzkanzler – George Osborne führte dazu Ende letzten Jahres zunächst geheim gehaltene Gespräche mit dem griechischen Ministerpräsidenten. Nun tönt es aus Griechenland, das immer wieder geäußerte Argument, in London seien die Skulpturen sicherer als in Athen, sei ja nun hinfällig. Griechisches Kulturgut werde im British Museum nicht geschützt, zitiert die BBC die griechische Archäologin Despoina Koutsoumba. Pikanterweise war Peter Higgs, der im Zentrum des Skandals steht, 2021 vom Curator zum Keeper der griechischen Antiken befördert worden und damit auch für die Parthenonskulpturen verantwortlich. Nachdem die griechische Kulturministerin Lina Mendoni Griechenlands Forderungen bekräftigte, empörte sich ein britischer Parlamentarier seinerseits über die vermeintliche Instrumentalisierung des Skandals.
Der Diebstahl im British Museum ist kein Einzelfall
Es ist wahrlich kein Trost, dass andere Museen nicht besser dastehen als das British Museum. Wie kürzlich bekannt wurde, sollen dem Canadian Museum of History zwischen 2012 und 2022 mehr als 800 Objekte abhanden gekommen sein. Ein funktionierendes Inventarisierungssystem habe es nicht gegeben, wie eine Untersuchung konstatiert.
Das British Museum muss als eines der bedeutendsten und größten Museen der Welt zeigen, dass es auf institutioneller Ebene in der Lage ist, die ihm anvertrauten Kulturgüter angemessen zu schützen und zu bewahren. In Zeiten, in denen viele Länder ihre Geschichte als Kolonialmacht aufarbeiten und Objekte an Herkunftsländer zurückgegeben werden, steht das British Museum wie ein Pulverfass in der britischen Kulturlandschaft. Und seine Lunte wird immer kürzer. Es bleibt zu hoffen, dass sich George Osbornes Äußerung bewahrheitet: „Ich sage es ganz deutlich: Wir werden in Ordnung bringen, was schiefgelaufen ist. Das Museum hat eine Mission über Generationen hinweg. Wir werden lernen, Vertrauen wiederherstellen und wir werden es wieder verdienen, dass man uns bewundert.“
Die internationale Presse hat immer wieder ausführlich zu dem Vorfall berichtet.
Eine Darstellung zu den Verlusten findet sich zum Beispiel im Guardian.
Auch Art News hat Artikel veröffentlicht.
Der Telegraph hat Ittai Gradels detaillierte Darstellung veröffentlicht.
Die FAZ bezog Stellung zu den ersten Äußerungen Fischers gegenüber Gradel.
Und über Fischers erste Pläne, 2024 zurückzutreten.
Unter anderem Artnet schrieb über Griechenlands Restitutionsforderungen der Elgin Marbles.
Canadian Coin News informierte über die verschwundenen Objekte im Canadian Museum of History.