Von Volkshelden und volkseigenen Betrieben
Venezuela und das Öl: Fluch und Segen
Seit über 100 Jahren spielen die reichen Erdölvorkommen im Maracaibo-Becken eine entscheidende Rolle für das Schicksal Venezuelas. 1917 gab es die ersten Funde in dem südamerikanischen Land. Gerade einmal 10 Jahre später war Venezuela der zweitgrößte Ölexporteur der Welt. Viele verdienten gut am Öl, nicht zuletzt ausländische Firmen, die es förderten und raffinierten.
Natürlich hätte Venezuela selbst gern mehr vom Kuchen abgehabt. Und das bringt uns in die Mitte der 1970er Jahre. Wir erinnern uns an diese Zeit als die der Ölpreiskrise. Die autofreien Sonntage des Jahres 1973, in denen man auf der Autobahn spazieren gehen konnte, haben sich in das kollektive Gedächtnis der Bundesrepublik eingebrannt. Schuld war eine Drosselung der Fördermengen in der arabischen Welt im Zuge des Jom-Kippur-Krieges. Die Ölpreise schossen in nie dagewesene Höhen. Für das ölreiche Venezuela und die an der dortigen Förderung beteiligten ausländischen Firmen war das eine gute Zeit. Die Einkünfte stiegen und stiegen.
In dieser Situation kommt 1974 der moderate Sozialist Carlos Andrés Pérez an die Macht. Er verstaatlicht den gesamten Ölsektor mit seinen gewaltigen Einnahmen – der Anlass für die bei Künker angebotene Münze. Venezuela wird in den kommenden Jahren zu einem der wohlhabendsten Länder Südamerikas. Die Einnahmen durch den Export von Rohöl lagen zwischen 1973 und 1983 bei sage und schreibe 240 Milliarden Dollar, was heute 696 Milliarden Dollar entspräche. Bis in die frühen 1980er Jahre hielt der Boom an. Der staatliche Ölkonzern Petróleos de Venezuela, kurz Petroven, expandierte sogar ins Ausland. Er kaufte Raffinerien in den USA und Europa auf und entwickelte sich zum drittgrößten Ölkonzern der Welt.
Doch dann wendete sich das Blatt, nicht zum ersten Mal in der Geschichte Venezuelas. Denn Öl ist ein zweischneidiges Schwert, dass nicht nur Reichtum beschert. Kennen Sie den Begriff „Holländische Krankheit“? Damit bezeichnen Volkswirte ein komplexes wirtschaftliches Phänomen. Verkürzt lässt es sich so zusammenfassen: Länder, die sehr hohe Gewinne mit dem Export von Rohstoffen erzielen, erleiden in anderen Wirtschaftsbereichen Einbrüche. Venezuela gilt als Paradebeispiel für dieses Phänomen. Als der Ölpreis ab 1983 einbrach, konnten die fehlenden Einnahmen nicht anderweitig ausgeglichen werden. Auf den Boom folgte eine schwere, langanhaltende Wirtschaftskrise. In den 1990er Jahren wurde daher die Ölindustrie wieder für eine Beteiligung aus dem Ausland geöffnet – und dann kam 1999 Hugo Chávez an die Macht. Der für viele im Ausland unbequeme Sozialist hatte Glück – 2007 stiegen die Ölpreise wieder in nie zuvor erreichte Höhen. Unter dem Schlachtruf „Das Erdöl gehört allen Venezolanern!“ entprivatisierte Präsident Chávez die Ölindustrie des Landes 2007 erneut.
El Libertador
Chávez bezeichnete seine Reformen des Landes als eine Revolution. Dieser gab er einen vielsagenden Namen: Die bolivarische Revolution. Damit bezog sich Chávez sich auf einen Mann, den er als sein großes Vorbild im Kampf gegen das „imperialistische Ausland“ sah und der in Venezuela große Beliebtheit genießt: Simón Bolívar– jenen Mann, der uns auch auf der Rückseite der Goldmünze von 1975 begegnet.
Bolívar (1783-1830) ist eine Ikone Lateinamerikas. Er führte im frühen 19. Jahrhundert den Unabhängigkeitskampf des Kontinents gegen die spanischen Kolonialherren an und gilt als Nationalheld vieler südamerikanischer Länder, die ihm ihre Unabhängigkeit verdanken. So sieht man Bolívar unter anderem im nach ihm benannten Bolivien und auch in Venezuela, in dessen heutigen Grenzen sein Geburtsort liegt – sehr zum Stolz der Venezolaner.
Das Bolívars Tod 1830 von seinen Zeitgenossen eher als Befreiung wahrgenommen wurde, interessierte bereits wenige Jahre danach kaum noch jemanden. Bis heute bleibt er bewundert, verehrt und verklärt. Auf Bolívar beruft man sich in allen politischen Lagern gern. Entsprechend oft taucht er auf Münzen Venezuelas und anderer südamerikanischer Länder auf.
Ob Bolívar diese Verstaatlichung gutgeheißen hätte? Nun, da er bereits 1830 gestorben ist, lange vor der Erfindung des Verbrennungsmotors, hat er sich dazu selbstredend nie geäußert. Aus sozialistischer Sicht jedenfalls lässt es sich wunderbar als Entkolonialisierung und Befreiung in Bolívars Sinne auslegen, wenn man ausländischen Firmen die Gewinne am venezolanischen Erdöl entreißt. Vielleicht sehen wir deshalb sein Porträt auf der Münze von 1975. Das Nominal ihrer Münzen haben die Venezolaner übrigens ebenfalls nach ihm benannt, und zwar schon seit 1879: Bolívar.
Die Verstaatlichung der Ölindustrie 1975 war ein wichtiger Moment in der Geschichte Venezuelas und bescherte dem Land großen Wohlstand. Ganz anders lief übrigens die zweite Verstaatlichung von 2007. Da dringend benötigte Investitionen ausblieben und massive Misswirtschaft herrschte, geriet der Ölsektor und mit ihm ganz Venezuela in eine Abwärtsspirale. Das Land hat bis heute mit einer anhaltenden Wirtschaftskrise zu kämpfen und gehört nicht mehr zu den reichsten, sondern den ärmsten Ländern des Kontinents. Alle paar Jahre werden beim Bolívar einige Nullen gestrichen, um die nicht enden wollende Inflation zu bekämpfen: 2018 waren es fünf, 2021 sechs.
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Lesen Sie hier eine kurze Einführung in die Geschichte Südamerikas anhand der Münzen der Sammlung Lissner.
Hier finden Sie Informationen über die Inflation in Venezuela 2017 unter dem Präsidenten Maduro.