Numismatische Miniaturen aus dem Norden: Teil 3 – Die Schatzinsel. Geschichte
Wer auf die Schatzinsel will, braucht heute kein Piratenschiff mehr. Die Fähre genügt. Auch wir fuhren mit vielen anderen von Nynäshamn nach Visby, und zwar kurz nach Midsommar 2018. Gute drei Stunden dauert die Fahrt. Und alle Schiffe waren voll, nicht ungewöhnlich für Midsommar, wenn alle Schweden ihren Sommerurlaub nehmen. Und den verbringen Schweden in ihrer wunderschönen Heimat. Darin sind sie Weltmeister.
Eines ihrer Lieblingsziele ist die Insel Gotland. Ich nehme jetzt mal an eher nicht wegen ihrer numismatischen Bedeutung, sondern weil es auf dieser Insel so wundervoll weiße Sandstrände gibt. Fast wie in der Karibik, und tatsächlich entstand der weiße Sand aus einem Korallenriff, das vor vielen Jahrmillionen dort war, wo heute Gotland ist.
Ein kleiner Überrest davon sind die so genannten Rauken, bizarre Gesteinsformen, die der Wind mit Hilfe kleinster Sandkörner zu merkwürdigen Naturdenkmälern gestaltet hat. Sie sind die Stars auf Gotland. Zu ihnen pilgern all die Besucher und machen zu ihren Füßen Picknick. Sie eignen sich wunderbar für den Familienurlaub, weil man die lieben Kleinen nicht zu beschäftigen braucht, wenn sie einen so herrlichen Abenteuerspielplatz mit persönlichem Kletterbaum vor sich haben.
Gotland ist nicht nur ein Lieblingsziel der schwedischen Großfamilien, sondern auch der Ostsee-Luxusliner. Visby, die Hauptstadt von Gotland, hat immerhin das Label eines UNESCO-Weltkulturerbes erhalten – mit all den Schattenseiten, die das nach sich zieht. Die besten Lagen der Altstadt werden also von Souvenirshops eingenommen, und die Sehenswürdigkeiten sind allesamt überlaufen (mit Ausnahme des Museums, was wir zu schätzen wussten).
Als wir am Sonntag Abend mit der Fähre in Visby ankamen, stiegen wir direkt am Hafen ab, in einem Hotel der Scandic Kette. Ich hatte dort gebucht. Ein großes Lob an das Marketing der nordischen Hotelkette! Ohne die geringste Falschaussage bekommt man trotzdem auf der Website einen komplett anderen Eindruck, was für ein Zimmer einen erwartet – (und das trotz „Standard Plus“). Erst nach dem dritten Zimmerwechsel hatten wir ein Zimmer, in dem wir gerne mehrere Tage blieben – und den guten Ruf der Deutschen verdorben. In Schweden scheint es nicht allzu üblich zu sein, sich zu beschweren.
Natürlich war der erste Tag der Stadt Visby gewidmet. Visby dürfte wohl erst im 8. Jahrhundert entstanden sein – und zwar zeitgleich mit dem Ostseehandel überhaupt. Vergessen wir nicht, durch die Eroberungen der Anhänger Mohammeds kamen alte, gut eingespielte Handelsverbindungen zum Erliegen. Da im Westen weiterhin ein Bedarf für die Waren des Ostens bestand (und umgekehrt) wurde nach Alternativen gesucht. Eine dieser Alternativen waren die Flusssysteme des heutigen Russlands, über die Händler aus dem Norden nach Miklagard fuhren. Miklagard sagt Ihnen nichts? Miklagard – die große Stadt – war der Name, unter dem Konstantinopel bei den Wikingern bekannt war – und die Wikinger hießen am byzantinischen Kaiserhof „Waräger“ und stellten seit 988 immer mal wieder die Leibwache des Kaisers.
Visby war zu diesem Zeitpunkt lediglich ein Handelsplatz von vielen. Denn auf Gotland gab es keinen Feudalherren, der den Bauern verbot, selbst Handel zu treiben. Im Gegenteil, jeder wichtige Bauer dürfte zu dieser Zeit sein eigenes Schiff mit den Reichtümern der Insel über das Meer gesandt haben, um diese gegen die Schätze des Ostens einzutauschen (oder bei Gelegenheit auch ein bisschen zu plündern, um die Reisekasse aufzufüllen…)
Aber über die reichen Bauern werden wir später noch sprechen, zurück zu Visby. Dieser Hafen wurde ein Treffpunkt der fremden Kaufleute aus Russland, Dänemark und Deutschland, die es nicht wagten, direkt über die Ostsee ihr Ziel, das reiche Nowgorod, anzufahren, sondern die Zwischenstation zu schätzen wussten. Tuche und Wein wurde hier gegen Pelze, Wachs und schwedisches Eisen verhandelt, um nur die wichtigsten Warengattungen zu nennen.
Es ist eine ewige Regel: Wo Kaufleute sind, ist der Futterneid groß und die Konkurrenz eine Plage. Die deutschen Kaufleute hatten auf ihrer Seite die Kapitalkraft der aufstrebenden Hansestädte, die Kontakte zu allen wichtigen Häfen Nordeuropas pflegten. Die einheimischen Händler hatten dagegen bessere Verbindungen zum Osten. Es gab viele blutige Nasen, bis die verschiedenen Händlergemeinschaften von Visby verstanden, dass es in ihrem Interesse lag, gemeinsam den Handelsplatz Visby zu stärken.
Im 13. Jahrhundert wurde Visby zur Hansestadt, ein Privileg, das nicht nur den deutschen, sondern auch den gotländischen Händlern Vorteile brachte, solange sie in der Stadt wohnten. Die neue Lieblingskonkurrenz waren die bäuerlichen Händler, die ihre Ware nicht nach Visby bringen (und dort kräftig Gebühren zahlen) wollten, sondern direkt von den anderen Häfen starteten. Die Stadtmauer, die ab 1270 gebaut wurde, war weniger als Verteidigungslinie gedacht, sondern als ein Hindernis, die ländlichen Waren auf den städtischen Markt zu bringen, ohne das Stadttor zu passieren, wo die Gebühren eingezogen wurden. Visby wollte das Umland wirtschaftlich unterwerfen, was von den weitgereisten Bauern durchaus verstanden und bekämpft wurde. 1288 kam es zu einem Bürgerkrieg, der auf Intervention des schwedischen Königs, damals Herrscher über die Insel, einigermaßen friedlich beigelegt wurde. Visby hatte aber seine Unabhängigkeit faktisch durchgesetzt.
Und damit begann die Blütezeit der Stadt. 15 Kirchen besaß die kleine Gemeinschaft, die man zu Fuß in gut einer halben Stunde von Ost nach West oder in 20 Minuten von Nord nach Süd durchqueren kann. Um die eindrucksvolle Stadtmauer zu umrunden, die heute noch die Altstadt vollständig umschließt, braucht es gut anderthalb Stunden.
Dass die Kirchen heute alle Ruinen sind, haben die Männer von Visby sozusagen selbst verschuldet, denn sie waren mit beteiligt am Untergang Gotlands als Handelsmacht. 1361 beschloss der dänische König Waldemar Atterdag, das schwedische Gotland unter seine Macht zu bringen. Er zog nach Visby, um die Stadt zu erobern. Zu ihrer Verteidigung kämpften nicht etwa die Bewohner von Visby, sondern die Männer des reichen Bauernlandes. Sie stellten ein Heer auf und zogen den Dänen entgegen, während die Kaufleute von Visby sicher hinter ihren Mauern blieben und diese nicht einmal öffneten, als die vernichtend geschlagenen Verteidiger der Insel Zuflucht erflehten.
Das Resultat: Rund die Hälfte aller männlichen Einwohner Gotlands kamen ums Leben, und zwar hauptsächlich Bauern, die bis dahin die Lebensmittel und einheimischen Handelsschlager erzeugt hatten. Wie schrecklich diese Schlacht war, kann man heute noch bei einem Besuch im sehr empfehlenswerten historischen Museum von Visby nachempfinden. Dort sind nämlich die Funde aus den Massengräbern ausgestellt, in die – um Seuchen zu verhindern, schließlich erinnerte man sich noch gut an die Pestepidemie von 1349 – alle Leichen geworfen wurden. Von Pfeilbolzen durchbohrte Schädel, abgehauene Beine, gespaltene Knochen: man kam schnell ums Leben, wenn man nur einen Lederpanzer trug statt ein stabiles Kettenhemd oder gar einen mit Eisenplatten verstärkten Rock wie die dänischen Feinde.
Visby kam noch einmal davon: Es musste lediglich Tribut zahlen, konnte aber die alten Handelsprivilegien erhalten, während im ganzen Land die reichen Bauernhöfe geplündert und gebrandschatzt wurden.
Von da an schöpfte der dänische König den Rahm vom Handelsprofit ab. Und 1394 wurde Visby gar zu einem Piratennest, als sich die Vitalienbrüder hier niederließen. 1398 vertrieb sie der Deutsche Orden. Doch auch der blieb nicht lange. 1408 übernahmen die Dänen wieder die Herrschaft.
Doch die große Zeit Visbys gehörte allmählich der Vergangenheit an. Der Handel wurde über neue Häfen abgewickelt. Die Stadt verlor ihren Rang als Zentrum der Ostsee. In welchem Maße, das wird wohl deutlich, wenn man sich die zahlreichen Kirchenruinen ansieht. Die Lübecker sollen wegen ihres Überfalls von 1525 dafür verantwortlich sein. Neuere Forschungen aber gehen davon aus, dass es eher die Vernachlässigung war, die diese überflüssigen Bauten langsam verfallen ließen.
Für das Visby der Renaissance reichte ein einziger Dom, die ehemalige deutsche Kirche, die Maria geweiht war. Sie wurde als einzige wieder aufgebaut und war – wir lieben die schwedischen Öffnungszeiten zu Midsommar – bis 20.00 abends geöffnet.
Wir hätten uns hier geradezu auf eigenem Grund und Boden fühlen können, denn der Bau der Kirche wurde von den deutschen Händlern bezahlt, die nach Gotland fuhren. Deshalb ist sie eng mit der Geschichte der Hanse verbunden. Die Swerting-Kapelle, um nur ein Beispiel zu nennen, wurde von Simon Swerting, dem Bürgermeister von Lübeck, zusammen mit seinen Brüdern für den Vater Hermann Swerting errichtet, der einst Bürgermeister von Visby war.
Der aus Rostock stammende Hanse-Kaufmann war zwischen die Mühlen der Mächtigen geraten: Trotz dänischer Herrschaft setzte der schwedische König die Stadt unter Druck: Entweder solle man ihm eine hohe Abgabe zahlen oder er würde die Stadt plündern. Hermann Swerting entschied sich fürs Zahlen – und verärgerte damit den dänischen König, der ihn 1342 hinrichten ließ. Später zahlte der an die Söhne eine hohe Entschädigung. Das machte den Bürgermeister zwar nicht mehr lebendig, aber dafür gab’s eine prächtige Sühnekapelle inklusive Unterhalt für einen Geistlichen.
Diese Kapelle wird heute als Gedenkstätte für die Opfer des Meeres genutzt. Hier erinnert man zum Beispiel an die Opfer der SS Hansa, die 1944 zur Abwechslung nicht von einem deutschen, sondern von einem sowjetischen U-Boot versenkt wurde.
Aber auch die jüngeren Katastrophen nehmen breiten Raum ein: So der Untergang der Fähre Estonia von 1994 und der schreckliche Tsunami von 2004.
Wer mehr über die Geschichte Visbys und Gotlands erfahren will, sollte unbedingt in das Historische Museum gehen, das zusammen mit allerlei anderem das Gotlands-Museum bildet.
Und genau das tun wir nächste Woche in der zweiten und letzten Folge von „Schatzinsel“.
Alle bisher erschienen Teile dieser Serie über Schweden, seine Geschichte und seine Münzprägung finden Sie auf dieser Seite.