Das Selbstbild der modernen Ukraine auf ihren Gedenkmünzen
von Daniel Baumbach
Die Ukraine erfährt aus traurigen Gründen momentan große Aufmerksamkeit. Wir beschäftigen uns mit dem Selbstverständnis der Ukrainer. Anhand der ukrainischen Gedenkmünzen untersuchen wir, wie sich das Land selbst sieht bzw. wie es gesehen werden möchte.
Inhalt
Die moderne Ukraine in ihren heutigen Grenzen entstand, als sich die Ukrainische Sozialistische Sowjetrepublik 1991 aus der Sowjetunion herauslöste. Die wichtigste Zäsur in der jüngeren Geschichte der Ukraine war 2013/2014, als der Euromaidan genannte Massenprotest den Sturz der russlandfreundlichen Regierung zur Folge hatte. Daraufhin annektierte Russland die Krim und der Bürgerkrieg in der Ostukraine begann.
Wie präsentiert sich das Land seit diesem Umbruch 2014 auf seinen Gedenkmünzen? Zunächst lässt sich festhalten, dass die ukrainische Nationalbank ein sehr umfangreiches und vielfältiges numismatisches Programm vorzuweisen hat. Seit 2014 wurden circa 330 Gedenkmünzen in der Landeswährung Hrywnja ausgegeben – Bullion nicht mitgezählt. Das entspricht etwa 40 Gedenkmünzen im Jahr, womit die Ukraine wohl zu den ausgabestärksten Ländern der Welt gehören dürfte. Schauen wir uns im Folgenden Themenschwerpunkte an, die auf diesen Gedenkmünzen gesetzt werden.
Ukrainische Kultur
Die mit Abstand meisten Gedenkmünzen der Ukraine lassen sich unter der Überschrift „Ukrainische Kultur, Architektur und Landesgeschichte“ einordnen. Mit der Wahl solcher Themen betont man die eigene Geschichte und Kultur, die identitätsstiftend wirkt.
Besonders häufig sieht man auf ukrainischen Gedenkmünzen Baudenkmäler wie Kirchen, Klöster, Theater, Burgen und Schlösser. Die langlaufende Serie „Architektonische Denkmäler in der Ukraine“ hat jährlich allein zwei bis vier Neuzugänge. 2021 gab es beispielsweise Gedenkmünzen auf die Festung Kiew, die St. Peter-und-Paul-Kathedrale in Lwiw und die Burg von Olesko. Dazu kommen Serien wie „Historische Städte der Ukraine“ und „Oblaste (= Bezirke) der Ukraine“, auf deren Münzen Sehenswürdigkeiten einzelner Städte aufgegriffen werden.
Kulturelles Erbe wie Volksfeste, Tänze oder Volkskunst wie Bauernmalerei und Teppichweberei werden ebenfalls auf Gedenkmünzen thematisiert. 2021 wurde beispielsweise eine schöne Farbmünze auf den Reschetyliwkaer Teppichwebkunst ausgegeben.
Die mittelalterliche Ukraine
Viele Gedenkmünzen beziehen sich auf die Geschichte der Ukrainer im Mittelalter. Man erinnerte 2019 beispielsweise an den Beginn der Regentschaft von Jaroslaw dem Weisen vor 1000 Jahren. Als er Großfürsten von Kiew war, erlebte das Reich der Kiewer Rus eine kulturelle Blüte. Die Münze zeigt auf der Vorderseite die Sophienkathedrale in Kiew und den „Russkaja Prawda“ genannten Gesetzescodex der Kiewer Rus, der unter Jaroslaw verfasst wurde. Auf der Rückseite sehen wir den Fürsten auf seinem Thron nach einer Miniatur aus einer mittelalterlichen Chronik. Gedenkmünzen wie diese oder die auf das mittelalterliche Königreich Galizien und den frühneuzeitlichen Kosaken-Staat sollen vor Augen führen, dass es schon früher Staaten der Ukrainer gegeben hat, auch wenn sie anders hießen.
Bildung, Medizin und Wissenschaft
Die Ukraine hat in den letzten Jahren eine erstaunliche Zahl an Jubiläen von Universitäten, großen Forschern und Medizinern mit Gedenkmünzen gewürdigt. Die meisten Länder der Welt greifen solche Themen gern in ihren Emissionen auf, kann man so doch wunderbar die Leistungen von Landeskindern zeigen und gleichzeitig betonen, dass dem Staat die Bildung am Herzen liegt.
Militär
Im Gegensatz zu den meisten anderen Ländern spielt das Militär auf ukrainischen Gedenkmünzen in den letzten Jahren eine sehr starke Rolle. Das verwundert wenig, befindet man sich in der Ostukraine doch seit 2014 im Bürgerkrieg gegen die von Russland unterstützten Separatisten.
Mit Gedenkmünzen bedacht werden allgemeine Themen wie einzelne Truppengattungen oder bestimmtes Militärgerät, aber auch konkrete Bezüge zum Bürgerkrieg im Donbas sind zu beobachten. Eine Ausgabe von 2021 zeigt den bekannten ukrainischen Opernsänger Vasyl Slipak. Er meldete sich freiwillig für den Kampf in der Ostukraine und fiel 2016. Auf der Rückseite der Münze wird er durch eine singende Nachtigall auf einem Gewehrlauf symbolisiert.
2018 wurde eine Münze ausgegeben, die an die Verteidiger des Flughafens von Donezk erinnert. Der Flughafen blieb ein Jahr lang zwischen angreifenden Separatisten und verteidigenden Regierungstruppen umkämpft, bis er schließlich im Januar 2016 an die prorussischen Truppen fiel. Das Nebeneinander von Sturmgewehr und Säbel symbolisiert die Verteidiger der Ukraine aus Gegenwart und Vergangenheit.
Die Botschaften dieser Münzen sind recht deutlich: sie ehren den Einsatz der Soldaten für ihr Land und drücken gleichzeitig die Wehrhaftigkeit und Verteidigungsbereitschaft der Ukraine aus.
Revolution
Der Euromaidan, die prowestliche Revolution von 2013/14, gilt als eine wichtige Zäsur in der Geschichte der Ukraine. Die Revolution und ihre Protagonisten wurden daher schon 2015 auf einer Reihe von Gedenkmünzen geehrt, was die Bedeutung dieses Umbruchs im neuen Staat betont. Eine Münze ist den „Himmlischen Hundert“ gewidmet, den etwa einhundert während der Revolution gefallenen Demonstranten. Eine weitere Münze zeigt eine geballte Faust mit einer ukrainischen Fahne vor dem Hintergrund der Europaflagge – ein Symbol für die Neuausrichtung des Landes in Richtung EU, wie es kaum deutlicher gewählt werden hätte können.
Die Krim
Die Krimhalbinsel ist seit 2014 faktisch von Russland annektiert, wird jedoch von der Ukraine und fast allen Ländern der Welt weiterhin als Bestandteil des ukrainischen Staatsgebietes betrachtet. Die ukrainischen Gedenkmünzen der letzten Jahre machen dies deutlich, indem sie bei der Darstellung der Landesgrenzen selbstverständlich nicht auf die Krim verzichten. Außerdem gibt die Nationalbank weiterhin Gedenkmünzen zu Orten auf der Krim heraus. 2019 wurde in der Serie „Oblaste der Ukraine“ beispielsweise die Stadt Sewastopol auf der Krim geehrt. Eine Gedenkmünze von 2018 thematisiert die Halbinsel selbst und ihre reiche Kultur seit der Antike.
Die Botschaft dieser Missachtung der politischen Realität ist klar: Die Ukraine gibt die Krim nicht auf, komme was wolle.
Die Sonnenblume
Die Sonnenblume gilt als Symbol der Ukraine. Viele Leser werden von dem Video aus den ersten Kriegstagen gehört haben, in dem eine resolute ukrainische Seniorin einen russischen Soldaten auffordert, aus dem Land zu verschwinden oder sich Sonnenblumensamen in die Taschen zu stecken, damit, wenn er auf ukrainischem Boden stirbt, wenigstens Sonnenblumen wachsen.
Eine Münze von 2020 greift die Sonnenblumensymbolik gleich zweifach auf. Sie wurde anlässlich des Tages der gefallenen Verteidiger herausgegeben. Ein Sonnenblumenfeld symbolisiert die Ukrainer, eine abgebrochene Pflanze die Soldaten, die in der Ostukraine ums Leben gekommen sind. Auf der Rückseite steht die Sonnenblume für das ganze Land und die Blütenblätter für die einzelnen Gebiete der Ukraine. Das unterste Blütenblatt meint die Krim, es ist abgefallen und erinnert in der Form an eine Träne. Zwei der Blätter auf der rechten (östlichen) Seite der Sonnenblume sind verbogen – sie symbolisieren die umkämpften Gebiete Donezk und Lugansk.
Die Ukraine als eigenständiger Staat
Es gibt noch viele weitere Themen, zu denen die Ukraine in den letzten Jahren Gedenkmünzen herausgegeben hat: Olympische Spiele, heimische Tiere und Pflanzen, chinesische und europäische Sternzeichen und das Schicksal der Ukraine im Zweite Weltkrieg gehören dazu. Das bisher Genannte soll uns jedoch als Ausschnitt hier genügen. Nehmen wir uns abschließend noch das wichtige Thema der Ukraine als eigenständiger Staat vor.
Viele Gedenkmünzen erinnern an Jubiläen, die direkt damit zu tun haben. Sowohl die Ausrufung der Ukrainische Volksrepublik 1917 als auch Jubiläen auf die Unabhängigkeit 1991 und die Verfassung von 1996 werden regelmäßig mit Münzen bedacht, teilweise sogar mit mehreren Ausgaben. Solche Münzen werden in der Ukraine unter dem Serientitel „Wiedergeburt der ukrainischen Staatlichkeit“ veröffentlicht. Es ist eindeutig, dass diese Ausgaben die nationale Identität stärken sollen und die Botschaft vermitteln, dass die Ukraine ein eigenständiger Staat ist. Besonders vor dem Hintergrund der momentanen Situation, in der die russische Seite der Ukraine eben diese Eigenständigkeit beiläufig abspricht, wird deutlich, warum diese Ausgaben ihren Sinn haben.
2021 feierte die Ukraine den dreißigsten Jahrestag ihrer Unabhängigkeit. Eine der zu diesem Anlass ausgegebenen Gedenkmünzen zeigt die Landesgrenzen als Baumkrone, der aus den Wurzeln von Vorgängerstaaten gewachsen ist. Die Bank hat einen Text zu dieser Münze verfasst, der das Selbstbild der Ukraine, wie es auf den Gedenkmünzen zu erkennen ist, gut zusammenfasst:
„Zu verschiedenen Zeiten kämpfte das ukrainische Volk für sein Recht auf einen eigenen Nationalstaat, eine eigene Sprache und eine eigene Kultur. Heute ist die Ukraine auf den Weltkarten als unabhängiger Staat abgebildet. Die Unabhängigkeit der Ukraine beruht auf dem historischen Gedächtnis, den Traditionen und dem geistigen und kulturellen Erbe des Volkes.“
Was ist dem noch hinzuzufügen? Fazit: Die Ukraine stellt sich in ihren Gedenkmünzen als ein vielfältiges Land dar und setzt den Fokus auf die eigene reiche Kultur, Geschichte und Wissenschaft. Das Militär spielt aufgrund der bürgerkriegsähnlichen Situation der letzten Jahre eine wesentliche Rolle, und damit zusammenhängend auch die nicht aufgegebene Krim. Nicht zuletzt steht die nationale Identität der modernen, vor 30 Jahren unabhängig gewordenen und vor acht Jahren stärker nach Westen ausgerichteten Ukraine deutlich im Fokus. Vielleicht ist es genau dieses Gefühl nationaler Identität, das Putin unterschätzt hat. Diese Gedenkmünzen werden mit Sicherheit nicht die letzten einer freien Ukraine gewesen sein.