Das Eisenbahnunglück von Borki
Es dürfte wohl die ungewöhnlichste Medaille der russischen Numismatik sein. Jene Medaille, die anlässlich des Zugunglücks von Borki am 29. Oktober 1888 geprägt wurde. Sie zeigt die kaiserliche Familie, allerdings nicht in der üblich repräsentativen Pose, sondern sozusagen ganz privat in Reisekleidung. Das Osnabrücker Auktionshaus Künker wird diese fast stempelglänzende Medaille am 1. Februar 2024 während seiner Berlin-Auktion mit einer Schätzung von 6.000 Euro anbieten. Während die Bronzevariante der Medaille immer wieder zu sehen ist, sind Stücke in Silber ausgesprochen selten.
Inhalt
Ein sorgfältig komponierter Schnappschuss
Auch wenn die Szenerie wirkt, als sei sie ein zufälliger Schnappschuss, der nach dem Unglück von der Familie aufgenommen wurde, ist sie sorgfältig komponiert. Im Zentrum des Geschehens steht Zar Alexander III. Er trägt einen langen Militärmantel und eine Schirmmütze. Seinen Arm legt er schützend um seine Gemahlin Maria Fjodorowna.
Rechts steht der Thronfolger, Zarewitsch Nikolaus, der spätere Nikolaus II. Er legt seinen Arm schützend um seine dreizehnjährige Schwester Xenija. Links finden wir den siebzehnjährigen Georgi, im Vordergrund die beiden jüngsten Kinder – zum Zeitpunkt des Eisenbahnunglücks 10 bzw. 6 Jahre alt. Sie dürfen sich auf dieser Medaille ausnahmsweise ihrem Alter gemäß verhalten: Der kleine Michail, in der Familie Floppy genannt, versenkt störrisch die Hände in den Kitteltaschen und schaut geschockt ins Leere. Olga, die Jüngste, läuft mit wehenden Haaren und fliegendem Röckchen zum Papa, um sich trösten zu lassen.
Wie hervorragend der an der kaiserlichen Münzstätte in St. Petersburg tätige Avenir Grigorjewitsch Griliches die Balance zwischen ungezwungen und repräsentativ gehalten hat, erkennt man, wenn man die Darstellung mit einer nur wenig später entstandenen Fotographie vergleicht.
Das Eisenbahnunglück von Borki
Wie aber war es zu diesem schrecklichen Unfall gekommen? Mitte Oktober 1888 begab sich der Zar mit seiner Familie von der Sommerresidenz auf der Krim nach St. Petersburg. Dafür wurde der kaiserliche Zug wie gewöhnlich zusammengestellt. Ihn zogen zwei Dampflokomotiven. Das war nötig, weil seine 15 Waggons mit ihren 64 Achsen wesentlich mehr Gewicht auf die Schienen brachten als jeder Personenzug. Um keine Kompromisse hinsichtlich der Geschwindigkeit einzugehen, war die hohe Zugkraft notwendig.
Am 29. Oktober – dem 17. Oktober nach Julianischem Kalender – passierte der Zug den Streckenabschnitt zwischen Charkow (heute Charkiw) und Rostow. Nahe dem Bahnhof Borki (heute Birky) befuhr er mit 68 Stundenkilometern eine leicht abfällige Strecke, die über einen etwa 10 Meter hohen Eisenbahndamm führte. Dabei entgleiste der Zug. Die Wagen zwei bis acht stürzten in die Tiefe.
Ein Wunder? Eine Heldentat?
Zum Zeitpunkt des Unglücks befand sich die kaiserliche Familie im Speisewagen und frühstückte. Zarin Maria Fjodorwna beschreibt, was dann geschah: „Gerade in dem Moment, als wir beim Frühstück saßen, verspürten wir einen starken Schlag und gleich darauf einen zweiten, woraufhin wir uns alle auf dem Boden fanden und alles um uns herum zu schwanken, zu fallen und zusammenzubrechen begann. Alles stürzte ein und krachte wie am Jüngsten Tag! In letzter Sekunde sah ich Sascha, der mir gegenüber an dem schmalen Tisch saß und dann zusammenbrach … In diesem Moment schloss ich instinktiv meine Augen, damit sie nicht die Glasscherben und alles andere, was da herunterfiel, abbekamen. Alles rumpelte und knirschte, und dann herrschte plötzlich so eine Totenstille, als ob niemand mehr am Leben sei.“
Tatsächlich hatte die kaiserliche Familie enormes Glück. Es war geradezu ein Wunder, dass sie mit leichten Prellungen, Schürfwunden und Kratzern aus dem umgestürzten Wagon kroch. Direkt vor dem Speisewagen befanden sich Küchen- und Servierwagen. Ihre Insassen wurden völlig zerschmettert und verstümmelt aus den Trümmern geborgen. 21 Menschen starben noch am Ort des Unglücks. 68 wurden schwer verletzt, zwei davon so schwer, dass sie kurz danach starben.
Während die Verletzten versorgt, die Toten identifiziert wurden, war der zweite königliche Zug bereits auf den Weg nach Borki, wo er in der Nacht ankam. Er brachte die kaiserliche Familie direkt nach St. Petersburg.
Bald machte eine Legende die Runde, wie sie auch Sergej Witte überliefert, der mit der Untersuchung der Unfallursachen betraut wurde. Er schreibt: „Obwohl einige Passagiere verletzt wurden, entkamen der Zar und seine Familie unverletzt. Tatsächlich wären der Zar und seine Familie wohl gestorben, wenn er [gemeint ist der Zar] nicht so unglaublich stark gewesen wäre. Sie waren im Speisewagen, als dessen Dach zusammenbrach. Aber er war fähig, es mit seinem Rücken zu stützen, so dass er anderen ermöglichte, den Wagon sicher zu verlassen. Erst danach verließ er selbst auf seine so typisch ruhige und sanfte Art den Wagon und tröstete und half den Leidenden. Es war nur auf Grund seiner Stärke, seiner Ruhe und seiner Menschlichkeit, dass nichts Schlimmeres geschah.“
Die wundersame Errettung als gute PR für die Romanows
In ganz Russland dankte man Gott, dass er die Zarenfamilie verschont hatte. Im gläubigen Russland wurde dies noch als ein besonderes Zeichen seiner Gnade verstanden. Gott selbst sanktionierte quasi die Herrschaft des Zaren. Warum sonst hätte er ihm sonst während des Unglücks beigestanden?
Exakt diese Überzeugung drückt die Darstellung der Medaille aus. Sie zeigt einen Schutzengel vor einer knienden Frau, die wir als Personifikation des russischen Reichs interpretieren dürfen. Vor ihr liegt auf einem Kissen die Zarenkrone und das Szepter, für das sie zum Schutzengel betet. Die Umschrift unterstreicht diese Interpretation. Sie lautet (in Übersetzung): Dein Schutzengel wird Dich beschützen, wohin Du auch gehen magst.
Die Medaille ist nur ein Teil einer umfassenden Propagandakampagne, in der die göttliche Unterstützung der Romanows die entscheidende Rolle spielt. Zu ihr gehörten zahlreiche Kirchbauten, und zwar nicht nur in nächster Nähe des Unglücksorts. In Reval an der Ostseeküste wurde genauso eine Kirche erbaut wie in Jaroslawl, ca. 300 Kilometer nördlich von Moskau, oder in Wolgograd, dem früheren Stalingrad. Viele dieser Kirchen wurden auf private Initiative errichtet, um so seine Loyalität gegenüber dem Zaren zu zeigen.
In diesen Bereich gehören auch die vielen Ikonen, die die sieben Namensheiligen der kaiserlichen Familie zusammenstellen. Die Ur-Ikone wurde nach dem Eisenbahnunglück neu geschaffen und in zahlreichen Kopien im ganzen Land verbreitet. Sie trägt die Aufschrift: In Erinnerung an die wunderbare Rettung des Souveränen Kaisers und seiner gesamten kaiserlichen Familie vor der Gefahr, die ihnen drohte, als am 17. Oktober 1888 der Zug auf der Strecke Kursk-Charkow-Asow verunglückte zwischen den Bahnhöfen Taranovka und Borki.“ Viele kaisertreue Russen erwarben so eine Ikone und hängten sie in ihrer „roten Ecke“ auf.
Was war nun aber schuld an der Katastrophe?
Wunder oder nicht, für den Ruf der Eisenbahn als sicheres Verkehrsmittel war dieses Unglück ein Desaster! Wir wissen, wie Menschen reagieren, wenn eine neue Technik ihre Grenzen zeigt: Mit Angst. Und die konnte sich das Russische Reich mit seinen endlosen Weiten schlicht nicht leisten.
Denn um das Land für die Industrialisierung zu erschließen, brauchte man die Eisenbahn. Mit ihr konnte man Rohstoffe und Fertigwaren preiswert und zuverlässig transportieren. Deshalb hatte der Eisenbahnbau oberste Priorität. 1855 umfasste das Eisenbahnnetz nicht einmal 1.000 Kilometer. Ende der 1880er Jahre waren es bereits über 22.000 Kilometer und die Transsibirische Eisenbahn befand sich in Planung.
Der Zar musste also persönlich dafür sorgen, dass die Menschen das Zutrauen in die neue Technologie nicht verloren. So beauftragte er eine Kommission. Diese wurde sich allerdings nicht einig. Wahrscheinlich hat Graf Witte mit seiner Version recht: „Wovor ich bereits gewarnt hatte, war geschehen: Wegen ihres Gewichts begannen die beiden Lokomotiven zu schwanken, als sie die geforderte Geschwindigkeit erreicht hatten; davon lösten sich einige Schienen und die Lokomotive entgleiste und zog den Rest des Zugs mit sich über die Böschung.“
Nicht das einzige Unglück der Eisenbahngeschichte
Das Eisenbahnunglück von Borki ist nur eines von vielen schrecklichen Ereignissen in der Geschichte der Eisenbahn, die zum Teil wesentlich mehr Opfer kosteten. Seinen Bekanntheitsgrad verdankt es der Berühmtheit der Passagiere und der aufwändigen PR-Kampagne, für die es genutzt wurde.