Groß ist die Artemis der Ephesier
Aufregung machte sich breit in der Stadt Ephesos. Ein Silberschmied namens Demetrios ging in der Stadt herum. Seinen Lebensunterhalt verdiente er mit der Anfertigung von kleinen Abbildern des Altares der großen Artemis von Ephesos. Vor allem weil er seine eigene Lebensgrundlage bedroht sag, stachelte er seine Mitbürger gegen einen gewissen Paulus auf, dessen Gerede von nur einem einzigen Gott die Lebensgrundlage der Stadt infrage stellte: Die Bedeutung des Heiligtums.
Und Demetrios hatte Erfolg. Eine große Menge von Leuten schloß sich seinem spontanen Protestumzug zum Theater an. Stundenlang skandierte die Masse „Groß ist die Artemis von Ephesos“ und Paulus hatte gerade noch Glück, daß ihn der aufgebrachte Mob nicht lynchte.
Die Apostelgeschichte führt uns manchmal eindrucksvoll antikes Selbstverständnis vor Augen. An dieser kurzen, frei nacherzählten Episode können wir gut ablesen, was für eine wichtige Rolle der Artemiskult im Leben der Ephesier spielte. Er war für sie nicht nur ein wichtiger Wirtschaftsfaktor, sondern auch ein Element des städtischen Stolzes. Der berühmte Tempel wurde deshalb mit Vorliebe auf den städtischen Münzen abgebildet.
Ephesos, Hadrian, 117-138. Medaillon. Rs.: Tempel der Artemis Ephesia mit Kultbild. BMC 77, 224. Aus Auktion Münzen und Medaillen AG, Basel 81 (1995), Nr. 494.
Hier haben wir eine besonders gut erhaltene Darstellung. Viele Einzelheiten des Tempelbaus sind genau zu erkennen. Dargestellt ist der in der Mitte des vierten Jahrhunderts erbaute Tempel. Er stand an der selben Stelle, an der seit dem 8./7. Jahrhundert die Artemis verehrt wurde. Die Front zeigte – wie hier auf unserer Münze – acht Säulen, die im oberen und unteren Bereich mit Friesen verziert waren. Wenn man sich den unteren Teil der auf der Münze dargestellten Säulen ansieht, kann man tatsächlich erkennen, daß der Stempelschneider sich bemühte, diese Verzierungen wiederzugeben.
Ein Freiraum zwischen den Säulen gibt dem Betrachter der Münze quasi den Blick auf den Innenraum frei: Er sieht das Standbild der Artemis von Ephesos. Natürlich stand das Kultbild in Wirklichkeit nicht im Eingangsbereich des Tempels. Es stand von außen unsichtbar im inneren Tempelbereich. Da es aber nicht Sinn einer Münze war, den Tempel der Artemis exakt wiederzugeben, sondern seine Besonderheit zu demonstrieren, benutzte der Stempelschneider den Kunstgriff, das Innere nach außen zu holen.
Artemis von Ephesos. Römische Kopie mit ergänztem Kopf und Händen. Archäologisches Museum Neapel. Foto: UK.
Genau charakterisiert der Künstler das überall bekannte archaische Kultbild. Auf dem Kopf trägt Artemis einen hohen Aufsatz, den sogenannten Polos; ganz oben sieht man eine Mauerkrone, wie wir sie vor allem als Kopfschmuck der kleinasiatischen Stadtgöttinnen kennen. Unten befestigt sind am Kopfschmuck Schleier, die rechts und links vom Kopf der Artemis auf ihre Schultern fallen. Ein einfacher Strich quer über die Brust gibt auf dieser Münze den sonst aufwendig gestalteten, aus mehreren Ringen bestehenden Halsschmuck wieder. Darunter, auf der Münze fast nicht erkennbar, die sogenannten Brüste. Es gibt unzählige Deutungsversuche zu diesem Bestandteil der Ikonographie der Artemis. Sie reichen von der Identifikation der Objekte mit Eiern (mal normal, mal vom Strauß oder von der Biene), Trauben, Nüssen, Eicheln, Amulettanhängern eines Brustschmucks, künstlichen im Kult verwendeten Brüsten, mißverstandenen Metallbuckeln eines Brustpanzers, Datteln, Meteoritengestein, magischen Flämmchen und zuletzt mit Stierhoden.
Die Arme hält Artemis – wie wir von verschiedenen Statuen wissen – steif nach vorne gestreckt, was der Stempelschneider auf der Münze natürlich nicht darstellen konnte. Er klappt die Arme seitwärts ins Feld auf. Unterhalb der Handgelenke sehen wir kleine auf Armreifen befestigte Vögel. Von den Armen hängen lange Wollbinden. Die Darstellungen der Artemis gleichen sich nie. Das dürfte daran liegen, daß dieser ganze Schmuck abnehmbar war. Wir kennen aus vielen anderen Zusammenhängen den Brauch, Kultbilder zu verschiedenen Anlässen jeweils passend zu bekleiden.
Im Tympanon, dem dreieckigen Giebel über der Säulenhalle, sieht man noch ein weiteres Detail. In der Mitte, eingerahmt von zwei kranztragenden Niken, ist eine kleine Tür dargestellt. Links und rechts davon sieht man zwei weitere gelagerte Figuren. Einen kleinen Hinweis, wozu diese Pforte in der Mitte diente, gibt uns Plinius, NH 14, 1, 9. Er schreibt, daß es in Ephesos eine Treppe gab, die vom Boden zu Öffnungen im Tympanon geführt haben soll. Es mußte also wichtig sein, daß irgendjemand vom Inneren des Tempels auf das Dach gelangen und in diesem Fenster oben erscheinen konnte. Tatsächlich wissen wir von den Epiphanien der großen Artemis.
Die Tür im Tympanon diente dazu, daß eine Priesterin der Artemis in die Gewänder der Gottheit gekleidet der staunenden Menge erscheinen konnte – genauso wie heute noch der Papst der auf dem Petersplatz wartenden Menge den Segen urbi et orbi erteilt.
Artemis von Ephesos war ein fester Bestandteil des Lebens der Bewohner der Stadt Ephesos. Durch ihren Schutz wußten sie die Stadt sicher und geborgen. Die Feiern ihr zu Ehren bildeten die lang erwarteten festlichen Höhepunkte im städtischen Leben. Die Pilger, die zu Artemis kamen, um Hilfe zu erflehen, ließen genauso wie die Touristen, die kamen um den Tempel zu besichtigen, Geld in der Stadt. Kein Wunder also, daß ein harmloser Wanderprediger wie Paulus die Ephesier in solchen Aufruhr versetzen konnte.
Der Tempel der Artemis blieb im Gedächtnis der Menschen. Hier eine barocke Darstellung von einem Kachelofen der Ofenbauer Pfau, Winterthur 1682. Historisches Museum Basel. Inv. 1895.13. Foto: UK.
Im Jahre 1863 brach der Engländer J. T. Wood auf, um den berühmten Tempel der Artemis von Ephesos zu finden. Von diesem bedeutenden Bauwerk, das in der Antike zu den Sieben Weltwundern gezählt wurde, war nichts mehr zu sehen. Ganze 6 Jahre dauerte es, bis der Ausgräber an dem Silvesterabend 1869 in einem Suchschnitt das Marmorfundament des verschollenen Tempels freilegte. Durch den Anstieg des Grundwassers waren auch die letzten oberirdischen Reste des Artemisions verschwunden. Heute, nach jahrelangen, immer wieder aufgenommenen Grabungen sieht der enttäuschte Reisende nur eine Wüste von Steinen, die kein Zeugnis mehr ablegen kann von der einstigen Größe der Artemis der Ephesier.