Brot für Tarsos
Uns Besuchern von Supermärkten und Ladenzentren ist es kaum nachvollziehbar, welche Bedeutung die lokale Getreideernte bis vor kurzem hatte, da Flugzeug, Lastwagen und schnelle Schiffe heute für den Verbraucher selbstverständlich billigen Transportraum für Nahrungsmittel bieten.
Die Horrea Epagathiana in Ostia bei Rom erlaubten das Lagern großer Getreidevorräte. Quelle: Patrick Denker / Wikipedia.
In der Antike war das anders. Nur ein Bruchteil der heute bekannten Nahrungsmittel stand zur Verfügung, Basis der Ernährung bildeten Getreide und Öl. Und sollte einmal die Ernte in einem Gebiet schlechter ausfallen, dann waren enorme Preissteigerungen vorprogrammiert, da nur aus wenigen Gebieten mit Überproduktion unter enormen Transportkosten Ersatz herbeigeschafft werden konnte. Der in Rom lebende Bürger kannte das Problem nicht, da hier der Kaiser schon in seinem eigenen Interesse, um das Volk ruhigzustellen, für ausreichende Ernährung sorgte. Doch für die Bewohner der Provinzen war Hungersnot und Teuerung ein drohendes Gespenst.
Und dieses Gespenst drohte in Tarsos. Nicht Hagel oder ein zu feuchter Sommer waren es, die im Jahre 215 n. Chr. eine Getreideknappheit befürchten ließen, sondern der Durchzug eines gewaltigen Heeres unter Caracalla. Dieses Heer mußte versorgt werden: Getreide wurde requiriert, natürlich zu günstigsten, vom Staat festgelegten Preisen, und damit war der Markt leergefegt. Das auf dem freien Markt noch übriggebliebene, restliche Getreide konnten die Bewohner von Tarsos nur zu stark überhöhten Preisen kaufen, so dass wieder einmal die Armen auf der Strecke blieben.
Was dann geschah, spiegelt vermutlich eine im 6. Jahrhundert stark christlich überarbeitete Märchenerzählung wider, deren Kern aus dem 3. Jahrhundert n. Chr. stammt (Es besteht durchaus die Möglichkeit, daß sich die Geschichte nicht auf die Ereignisse unter Caracalla, sondern auf eine zweite Getreideverteilung an die Bürger von Tarsos bezieht, die von Severus Alexander anläßlich seines Besuches der Stadt veranlaßt wurde.):
Apollonius von Tyrus ist gerade in Tarsos angekommen, nur um zu erfahren, dass sein Schwiegervater in spe ihm die Hand seiner Tochter verweigern will und auf seinen Kopf einen Preis von 50 Talenten ausgesetzt hat.
„… Stranguilio erwiderte darauf: ‚Herr Apollonius, unsere Stadt ist ganz arm und vermag einen so hohen Herrn wie dich nicht zu unterhalten; außerdem leiden wir an einer schweren Hungersnot und haben kein Getreide; die Bürger haben schon nicht mehr Hoffnung auf Rettung, sondern der grausamste Tod steht uns vor Augen.‘ Da sagte Apollonius: ‚Danket Gott, der mich auf meiner Flucht in euer Gebiet verschlagen hat! Ich will eurer Stadt 100.000 modii Getreide geben, wenn ihr nur meine Flucht geheimhaltet.‘ Wie Stranguilio das hörte, warf er sich ihm zu Füßen und sagte: ‚Herr Apollonius, wenn du der Hunger leidenden Stadt hilfst, werden wir nicht nur deine Flucht geheimhalten, sondern, wenn es nötig ist, auch für deine Rettung sorgen.‘ Apollonius bestieg darauf die Rednerbühne.“ Öffentlich verkündet er, daß er für den Modius Getreide lediglich 2 Sesterzen fordern werde, die gleiche Summe, die er in der Heimat dafür gezahlt hatte. Als das die Bürger hörten, „wurden sie frohgestimmt, dankten Apollonius und begannen sogleich, das Getreide entgegenzunehmen. Damit es jedoch nicht schiene, Apollonius habe auf seine königliche Würde verzichtet und verdiene eher die Bezeichnung eines Kaufmanns als die eines Wohltäters, nahm er das Geld zwar entgegen, gab es jedoch für gemeinnützige Zwecke der Stadt wieder zurück. Als die Bürger diese so großen Wohltaten sagen, stellten sie auf dem Markt ein Zweigespann auf, auf dem Apollonius stand, wobei er in der rechten Hand Ähren hielt und mit dem linken Fuß auf einen Scheffel trat. Auf den Sockel aber schrieben sie: ‚Der Stadt Tarsus hat Apollonius aus Tyrus ein Geschenk gegeben, das die Bürgerschaft von einem schrecklichen Tod errettet hat.‘ “ (Übersetzung nach: Geschichte des Königs Apollonius von Tyrus, ein antiker Liebesroman nach dem Text der Gesta Romanorum. Übertragen von Ilse Schneider und Johannes Schneider. Insel Verlag, 6. Aufl. Frankfurt am Main 1992).
Tarsos (Kilikien), AE, Caracalla, 198/211-217. Vs.: Büste des Caracalla mit Reif im Haar n. l., darunter Stern. Rs.: Galeere n.r. darunter Fische. SNG BN 1531var. Aus Rauch Sommerauktion (2011), Nr. 828.
Entkleidet man nun die Geschichte ihrer märchenhaften Verbrämung, so kommt man schnell auf den Kern des Geschehens: Die Bürger von Tarsos konnten Caracalla überzeugen, dass die Stadt nicht im Stande war, ihn und sein Heer zu verpflegen. Deshalb ließ der Kaiser aus Ägypten 100.000 modii Getreide per Schiff kommen, die er für einen symbolischen Preis von 2 Sesterzen an die Bürger verkaufen ließ.
Wir haben sogar ein direktes Zeugnis für diese Verteilung, eine Tessera mit der Aufschrift TAPCOC und einem Getreidefrachter auf der Rückseite. Mit der großangelegten Getreideverteilung wurde natürlich der gesamte Markt entlastet, da nun auch für das Getreide auf dem freien Markt nicht mehr die Nachfrage bestand wie vorher. Den Kaufpreis stellte der Kaiser nun wiederum der Stadt zur Verfügung. Zum Dank errichteten die Bürger von Tarsos dem Kaiser ein Standbild. Die Frage bleibt nur: Wie hatten die Bürger von Tarsos den Kaiser dazu gebracht, ausgerechnet ihre Stadt mit Getreide zu unterstützen? Soweit man es nachvollziehen kann, eine außergewöhnliche Maßnahme für eine Stadt in der Provinz.
Priesterkrone eines Kybelepriesters. Berlin, Altes Museum Foto: UK.
Dazu gibt die Vorderseite der Münze einen kleinen Hinweis. Der dargestellte Kaiser Caracalla trägt nicht wie sonst Panzer, Mantel und Lorbeerkranz, sondern sein Kopf ist geschmückt mit einem wulstigen Kranz und er trägt eine Art Umhang. Diese Tracht kennen wir von anderen Münzen. Bei dem Kranz, der gelegentlich auch allein auf tarsischen Münzrückseiten dargestellt ist, handelt es sich um den Demiurgenkranz, Rangabzeichen des obersten Beamten von Tarsos. Caracalla ist also dargestellt in der Tracht des ‚Bürgermeisters‘ von Tarsos.
Es war ein genialer Schachzug der Bürger von Tarsos, den Kaiser zu überreden, das Amt des obersten Beamten zu übernehmen. Dadurch fühlte sich Caracalla wohl verantwortlich für das Wohl der Stadt und half ihr aus der drohenden Hungersnot, indem er aus seiner kaiserlichen Provinz Ägypten genug Getreide heranbringen ließ, um die ärgste Not zu lindern. Und genau das stellten die Bürger von Tarsos auf ihren Münzen dar, um den anderen Städten zu zeigen, wie sehr der Kaiser Tarsos schätzte, und vielleicht um sich selbst immer wieder an den gelungenen politischen Schachzug zu erinnern.
Dieser Artikel beruht auf der Arbeit von Ruprecht Ziegler, Münzen Kilikiens als Zeugnis kaiserlicher Getreidespenden, Jahrbuch für Numismatik und Geldgeschichte 27 (1977) 29-67.