MenschenGesichter Teil 46: „Rufst du, mein Vaterland“
mit freundlicher Genehmigung des MoneyMuseum, Zürich
Warum galt der Kopf jahrhunderte-, nein, jahrtausendelang als das Motiv einer Münzseite schlechthin? Und warum hat sich dies in den letzten 200 Jahren geändert? Das fragt Ursula Kampmann in ihrem Buch „MenschenGesichter“, dem die Texte unserer Serie entnommen sind.
Schweizerische Eidgenossenschaft. 20 Franken 1883, Bern. Personifikation der Helvetia mit Diadem und Alpenrosenkranz n. l. Rs. Schweizer Wappen in Kranz von Eichen- und Lorbeerlaub. © MoneyMuseum, Zürich.
Wer heute die Umlaufmünzen der Schweiz betrachtet, hat einen direkten Zugang zum 19. Jahrhundert: Seit weit mehr als 100 Jahren werden hier dieselben Münzbilder benutzt.
Die Vorderseite der ersten, für den Umlauf geschaffenen Goldmünze der modernen Schweiz, die 1883 geprägt wurde, sah nicht wesentlich anders aus als die in den Jahren 1879 bzw. 1881 eingeführten 5-, 10- oder 20-Rappen-Stücke, mit denen wir auf eidgenössischem Gebiet heute noch bezahlen. Doch was auf uns vielleicht ein wenig altväterisch wirkt, war bei seiner Einführung hochaktuell und die modernste Form der Selbstdarstellung.
Helvetia nimmt die Stadtgöttin von Genf in ihren Schutz auf. Denkmal auf den Beitritts von Genf zur Eidgenossenschaft im Jahre 1814, eingeweiht 1869. Foto: Norbert Aepli – CC-BY-2.5.
Helvetias tummelten sich nämlich nicht nur im Münzbild: Jeder Festumzug, jedes Festspiel wurde mit jungen Frauen verziert, die sich als Personifikation der Schweiz, ihrer Kantone oder Städte produzierten. Anbei ein Beispiel von vielen, in denen uns Helvetia direkt gegenübertritt. Anlässe wie dieser ließen damals Helvetia zu einem höchst lebendigen Motiv werden.
Im Jahre 1892 fand in Basel eine große Feier anlässlich der 500sten Wiederkehr des Tages der Vereinigung von Groß- und Kleinbasel statt. Gekrönt wurden die Zeremonien mit einem gigantischen Schauspiel, das Rudolf Wackernagel, ein sonst zu Recht unbekannter Freizeitdichter, verfasst hatte. In verschiedenen historischen Szenen rollte die Geschichte Basels vor den Augen der Zuschauer ab. Nach dem letzten Bild versammelten sich alle Darsteller auf der Bühne. Sie bildeten den farbenprächtigen Hintergrund für den Auftritt von Basilea, der Verkörperung von Basel, und Helvetia. Für diese Rollen hatte man junge Damen ausgewählt, deren Väter wichtige Positionen in der Politik bekleideten. Sie trugen lange Gewänder, verziert mit den jeweiligen Wappen. Basilea balancierte dazu eine Mauerkrone auf dem Kopf, Helvetia trug ein Diadem. Dieses Diadem finden wir auch im Münzbild. Es trägt die Aufschrift „LIBERTAS“ (Freiheit) und formuliert damit bildlich die Aussage, dass die Schweiz durch die Freiheit geschmückt sei.
Auftritt Klio, die Muse der Geschichtsschreibung. Sie erzählt, wie Basel eingetreten sei in den Bund der Eidgenossen. Darauf Basilea: Nur die Freiheit sei es gewesen, die sie dazu bewegt habe, sich in die Arme der mütterlichen Schweiz zu begeben, um eben diese Freiheit als ewiges Geschenk der Mutter zu erhalten. Helvetia spricht nun mit viel Pathos über ihre mütterlichen Gefühle für Basilea und alle, die sich nach Freiheit sehnen. Beide umarmen sich und zum Abschluss singen alle Darsteller zusammen mit dem Publikum die damalige Schweizer Nationalhymne „Rufst du, mein Vaterland“.
Wie aus der Helvetia das „Vreneli“ wurde, erfahren Sie in der nächsten Folge.
Alle Teile der Reihe finden Sie hier.
Das Buch „MenschenGesichter“ gibt es in gedruckter Form und als ebook auf der Seite des Conzett Verlages.