Alexander von Abonuteichos – Ein Lehrstück aus Kleinasien über Leichtgläubigkeit im 2. Jahrhundert n. Chr.
Sie gehören auch zu den Leuten, die glauben, dass es mehr Dinge zwischen Himmel und Erde gibt, als uns die Schulweisheit lehrt? Nun, damit stehen Sie in einer endlosen Tradition und können sich darauf berufen, dass es schon in der Antike Leute gab, die genauso dachten wie Sie.
So zum Beispiel in Abonuteichos, einer klitzekleinen Provinzstadt am Rande der römischen Welt in Paphlagonien. Dort hatte sich etwas Wunderbares ereignet: Ein imposanter Wanderprediger erschien und verkündete den Stadtbewohnern, dass Asklepios beschlossen habe, sich in neuer Gestalt ausgerechnet in Abonuteichos niederzulassen. In der Tat lief der Prophet ein paar Tage später nackt in tiefer Trance und begleitet von sämtlichen Neugierigen der ganzen Stadt zu den Fundamenten des Tempels, den die von der bevorstehenden Ankunft des Asklepios Begeisterten schon mal vorsichtshalber begonnen hatten, zu errichten. Dort fand er ein Ei, aus dem eine kleine Schlange zum Vorschein kam, der neugeborene Asklepios.
Amaseia (Pontos), Antoninus Pius, AE, 158. Rs. Menschenköpfige Schlange (Glykon) auf Basis n. l. RG 16var. Aus Auktion Gorny & Mosch, München 118 (2002), Nr. 1708.
Die Gläubigen erlebten ein paar Tage später ein eindrucksvolles Spektakel. In einer dunklen Hütte thronte der prächtig gewandete Alexander. Sein Haar wallte prachtvoll herab, sein Gewand war weit und mit Zauberzeichen bestickt. Um sich hatte er die in der kurzen Zeit auf wunderbare Weise gewaltig gewachsene Schlange geschlungen. Nicht nur das ungewöhnlich schnelle Wachstum, auch das Aussehen des Tieres zeugte von seiner göttlichen Herkunft. Die Schlange hatte einen Kopf wie ein Mensch mit langem Haar. Ihre Zunge bewegte sich ständig. Und das größte Wunder: Sie sprach und verkündete gleich selbst ihren Namen und ihre Herkunft: „Ich bin Glykon, Nachkomme des Zeus in der dritten Generation, (Zeus war Vater des Apollon, Apollon Vater des Asklepios.) Licht und Erleuchtung für die Menschheit.“
Die Orakelgebühr war billig. Eine Drachme und zwei Oboloi, das konnten sich auch die Ärmeren leisten und das Orakelgeschäft florierte. Von nah und fern kamen die Ratsuchenden, schon lange nicht mehr nur die Bauern aus der Umgebung, sondern reiche Kaufleute aus den großen Städten, ja sogar ein Senator aus Rom, den Glykon so begeisterte, daß er sofort seine Tochter mit dessen Prophet Alexander vermählte.
Die Bewohner der Stadt konnten sich freuen. Ihre Einnahmen hatten sich dank ihres Gottes vervielfacht. Und so benannten sie ihre alte Stadt Abonuteichos nach dem Bringer ihres Wohlstandes, Glykon oder Ion, wie er sich selbst nannte, in Ionopolis um. Natürlich setzen sie das Bild des neuen Gottes auch auf ihre Münzen und so können wir ihn noch heute in all seiner Schönheit bewundern.
Ach, Sie gehören nicht zu den Leuten, die an Wunder glauben? Dann gefällt Ihnen bestimmt die Fortsetzung der Geschichte. Der Schriftsteller Lukian war nämlich im Rahmen seiner Reisen auch nach Abonuteichos gekommen und hatte wutentbrannt die tatsächlichen Hintergründe dieses neuen Orakels enthüllt.
Bei dem selbsternannten Propheten handelte es sich um einen heruntergekommenen Tingel-Tangel-Schauspieler, der sich bei einer Reise durch Makedonien als Requisit eine dieser zahmen Hausschlangen gekauft hatte. Sie hatte ihn auf die Idee gebracht, die Leichtgläubigkeit der Leute auszunutzen, um sich selbst – vermutlich müde des dauernden Wanderns – eine sichere Versorgung fürs Alter zu schaffen. So zog er in sein Heimatdorf, das weltferne Abonuteichos, wo er durch geheimnisvolle Voraussagen eine erwartungsvolle Stimmung schürte.
Die Geburt seines Gottes wurde wirkungsvoll inszeniert: Beim nahegelegenen sich im Bau befindlichen Asklepiostempel versteckte Alexander ein Gänseei, das er vorher entsprechend präpariert hatte: Er verbarg in dem sorgfältig in zwei Hälften gesägten Ei eine kleine Schlange und verschloß den sichtbaren Spalt wieder mit Wachs, so daß das Ei unberührt wirkte. Kleiner Trick, große Wirkung.
Der hochberühmten Gott Glykon, den wir auf dieser Münze sehen, war eine brave Hausschlange, die aus Stofffetzen gebastelt einen neuen Kopf erhalten hatte. Das Dunkel in der Orakelstätte war also nötig, daß keiner der „Kunden“ hinter das Geheimnis kommen konnte. Die Zunge im falschen Maul ließ der Prophet höchstpersönlich mit Hilfe eines Pferdehaares hervorschnellen. Ja, und die Stimme – dafür bediente man sich einer Röhre aus Gänsegurgeln, die zu einem Vorhang führte, hinter dem ein Gehilfe stand, der erfindungsreich genug war, auf jede Frage die passende unverbindliche Antwort zu haben.
Will man Lukian glauben, dann ereilte den Propheten Alexander das gerechte schreckliche Ende, das Verbrechern zusteht: Durch eine krebsartige Krankheit faulte ihm das Bein bis zur Hüfte ab, so dass am Schluss die Würmer daraus hervorkrochen. Seine Nachfolger konnten sich nicht einigen, so dass das Orakel nach und nach an Bedeutung verlor.
Nikomedeia (Bithynien), Caracalla, 197-217. AE. Rs. Menschenköpfige Schlange Glykon in mehreren Windungen aufgerichtet rechts. RG II, S. 545, – (vgl. 225). Aus Auktion Numismatik Lanz, München 114 (2003), Nr. 507.
Aber hier schönte Lukian seine Geschichte gewaltig, um ein moralisches Ende zu erzielen. Tatsächlich arbeitete das Orakel weiter, wir haben Münzen aus späterer Zeit bis hin zu Trebonianus Gallus (251-253), auf denen die Schlange Glykon abgebildet ist. Sein Kult breitete sich aus, vor allem im Donauraum, wo wir Inschriften und Münzen finden, die dem neuen Gott und seinem Propheten gewidmet sind.
Und wenn ich mit dieser Geschichte etwas zeigen wollte, dann nur, wie nahe uns die Menschen der Antike sind mit ihren Ängsten und Sorgen, ihren Fehlern und Stärken, ihren Tricks und Tücken.