Ein Rinderdieb als königliche Identifikationsfigur
„Als Götter verehren sie nur den Ares, den Dionysos und die Artemis; ihre Fürsten, aber nicht das Volk, verehren besonders hoch den Hermes, bei dem allein sie ihre Eide schwören, und den sie ihren Stammvater nennen.“ Das schreibt Herodot über die Thraker. Und das ist natürlich das typische Missverständnis des Griechen, der versuchte, die fremden Götter mit den Namen der eigenen zu bezeichnen. In Wirklichkeit war alles ein wenig komplizierter:
Hauptgottheit der Thraker war eine Muttergottheit, die sich im Gebirge manifestierte und von den Griechen mit der Großen Göttin oder eben Artemis in Verbindung gebracht wurde. Sie gebar einen Sohn, einen Blitz und Donner schleudernden Steingott, den man später als den Sabazios in orgiastischen Riten verehren sollte. Sabazios hatte zwei Gesichter. Als dunkler Gott wirkte er bedrohlich, doch gleichzeitig gewährte er seinen Anhängern Befreiung von aller persönlichen Schuld. Vielleicht war das der Grund, warum die Griechen in ihm den Dionysos wiedererkannten.
Mutter und Sohn brachten in einer heiligen Hochzeit ihren ersten Gläubigen hervor, Rhesos, den man auch als den Orpheus des Nordens bezeichnete. Er diente dem Dionysos im Gebirge des Pangaion als Priester und wurde – wie wir von Euripides wissen, der ihm eine Tragödie widmete – mit Ares gleichgesetzt.
Nun fehlt uns nur noch Hermes; und mit diesem Namen bezeichnete Herodot den Anax, den mythischen ersten Priester-König der Thraker, Vorfahre aller thrakischen Königsgeschlechter, die auf ihn ihr Privileg zurückführten, als einzige in den Geheimkult des Sabazios eingeweiht zu werden.
Diese ungewöhnlich fein erhaltene Oktodrachme von König Getas, Herrscher der Edonen, wird am 10. März 2014 von Gorny & Mosch in München versteigert. Sie ist mit 75.000 Euro geschätzt.
Auch Getas, König der reichen Edonen, führte seine Abstammung auf Anax-Hermes zurück. Und so wählte er ihn als Thema für seine Oktodrachmen, von denen Gorny & Mosch ein überdurchschnittlich erhaltenes Exemplar in seiner Auktion 219 am 10. März 2014 anbieten kann. Wie vertraut die Edonen mittlerweile mit griechischem Gedankengut waren, zeigt die Vorderseite der Münze, in der die Gestalt des Anax vollständig hellenisiert als Hermes auftritt.
Der hatte – dem griechischen Mythos zu Folge – noch am Tag seiner Geburt zuerst die Leier erfunden und dann schnell 50 Rinder des Apollon gestohlen – was auf der Vorderseite der Oktodrachme dargestellt ist. Apollon bemerkte den Diebstahl, konnte der Spur aber nicht folgen, weil Hermes sie geschickt verwischt hatte. Allerdings hatte ein Hirte den Diebstahl beobachtet und Apollon informiert. So wandte der sich an die Mutter des Hermes, Maia, die ihn an das friedliche Kleinkind in der Wiege verwies. Das argumentierte fröhlich, dass es für so was nun wirklich zu klein sei, und noch nicht einmal wisse, was eine Kuh sei. Apollon klagte daraufhin Hermes vor Zeus an. Der hatte seinen durchtriebenen Nachwuchs längst durchschaut und verurteilte ihn zur Rückgabe der gestohlenen Herde. Da zog Hermes die Leier heraus, spielte darauf und bot dieses Musikinstrument Apollon als Gegenwert für die 50 Rinder an. Der akzeptierte, und so war der Frieden zwischen den Göttern wieder hergestellt.
Das bekannteste Denkmal von Amphipolis stammt aus hellenistischer Zeit. Der Löwe diente einst als Grabmal. Foto: KW.
König Getas, Prägeherr dieser Münze, war einer der mächtigsten Herrscher in Makedonien. Als Zeitgenosse – und Konkurrent – des Makedonenkönigs Alexander I. herrschte er über ein Gebiet mit unendlich reichen Bodenschätzen. Zentrum der Macht war die strategisch so wichtige Region am Unterlauf des Strymon, wo später die viel umkämpfte Stadt Amphipolis gegründet werden sollte. Getas kontrollierte sowohl Gold- als auch Silberbergwerke im Pangaiongebirge. Aus dem dort gewonnenen Silber wurden die großen Oktodrachmen geprägt.
Die Frage ist, warum der König der Edonen diese Münzen brauchte, die sich nicht für den heimischen Kleinhandel eigneten. Viele Stücke wurden an Orten gefunden, die zur Zeit Getas’ von den Persern beherrscht wurden. Daraus schließen einige Forscher, dass die Oktodrachmen als Tribut für den persischen König hergestellt wurden. Schließlich hatten schon seit der Wende zum 5. Jahrhundert persische Truppen versucht, das reiche Nordgriechenland unter ihre Macht zu bringen. Gelungen war dies erst 480, als Xerxes die Edonen zwang, sich seinem Heer gegen Athen anzuschließen. Ob die Edonen nach dem Abzug der persischen Truppen im Jahr 476 wirklich völlig unabhängig wurden? Oder ob sie weiter einen nominellen Tribut an den persischen Herrscher zahlten? Die Quellen geben uns darüber keine Auskunft.
Allerdings wissen wir, dass die Athener nach ihrem Sieg über die Perser versuchten, die Reichtümer des Nordens unter ihre Kontrolle zu bringen. Die Edonen rieben sich auf in einem Kampf gegen den makedonischen König auf der einen und die Athener auf der anderen Seite. 424 kam der letzte edonische König beim Kampf um das spätere Amphipolis ums Leben. Die Edonen verschwanden aus der Geschichte. Nur der Name Edonis für eine Region der römischen Provinz erinnerte noch an ihren einstigen Reichtum.