Hier aber irrte Aristoteles…
In seinem Werk über den Staat der Tarentiner beschrieb Aristoteles auch die Münzen dieser Stadt. Er bemerkte, daß sie den Taras, Sohn des Poseidon, auf einem Delphin reitend darstellen.
Tarent, Stater, 325-281. Fischer-Bossert 925. Aus Auktion Gorny & Mosch 118 (2002), 1096.
Tatsächlich finden wir auf den Prägungen der unteritalienischen Stadt einen jungen Mann, der auf einem Delphin reitet und in einer Hand meist einen Gegenstand hält. Auf diesem Beispiel hält er einen Kantharos und ein Ruder, aber wir finden auch Spindeln, Krüge, Kränze, kleine Delphine und Unzähliges mehr. Rechts von der Figur dieses Mannes finden wir die Inschrift TARAS, also den Nominativ der Stadt Tarent, was für eine griechische Münze ziemlich ungewöhnlich ist. Normalerweise sind die Prägungen mit dem Genitiv Plural bezeichnet, also nicht Syrakus, sondern (Münze der) Syrakusaner – um nur eines von unzähligen Beispielen zu nennen. Aristoteles entnahm dem, daß das Wort Taras nicht den Prägeherrn bezeichne, sondern den Dargestellten, eben den Namengeber der Stadt Taras.
Jugendlicher Flötenspieler auf einem Delphin. Archäologisches Museum, Madrid. Foto: Maria-Lan Nguyen / Wikipedia.
Leider kennt die klassische Überlieferung keinen Taras, der auf einem Delphin reitet. Sie schrieb diese Wandersage, die sich so auch in zahlreichen anderen lokalen Mythenkreisen findet, dem Phalanthos zu, den die Tarentiner als ihren Gründer verehrten. Die Gründungssage der Stadt Tarent überliefert, daß dereinst die Söhne von Spartanerinnen und Heloten – einer Art Staatssklaven in Sparta – gegen die herrschenden Spartiaten rebellierten. Sie wurden angeführt von Phalanthos. Der Aufstand schlug fehl, die Rebellen wurden ins Exil gezwungen und gründeten unter Führung eben dieses Phalanthos eine neue Stadt, Tarent, günstig an einem natürlichen Hafen gelegen. Wir besitzen noch mehr Überlieferungen aus seinem Leben. So soll er nach Delphi gepilgert sein, um für seine Stadt um Regen zu bitten, und auf dieser Reise hatte ihn ein Delphin aus schwerer Seenot gerettet. Ein Problem von Tarent war nur die Tatsache, daß man kein Grab des Phalanthos vorweisen konnte. Dies war bedauerlich, da normalerweise der Gründer einer Stadt in der Mitte seiner Gründung begraben wurde, damit er auch nach seinem Tod die Stadt beschützen konnte. Die findigen Tarentiner glaubten deshalb an folgenden Mythos: Sie selbst hätten dereinst den Phalanthos aus ihrer Stadt vertrieben und er sei im Exil in Brentesion gestorben. Doch er nahm ihnen dies nicht übel. Phalanthos kehrte zurück nach Tarent: Seine Gebeine wurden in die Stadt überführt und auf der Agora verstreut.
Tarent. Stater, plattiert. Vlasto, Oikistes 1A, a. Aus Auktion LHS 95 (2005), 433.
So haben wir also zwei tarentinische Heroen und leider keinen einzigen konkreten Beweis für ihre tatsächliche Existenz. Wir wissen lediglich, daß beide im Glauben der Tarentiner nebeneinander existierten. Dies überliefert uns zum einen Pausanias, der in seiner Beschreibung Griechenlands eine Weihegabe in Delphi schildert, die beide Heroen nebeneinander zeigte, und zum anderen die zu Beginn des 5. Jahrhunderts geprägten Münzen der Stadt, die auf beiden Seiten mit der gleichen Umschrift zwei verschiedene Heroen zeigen: Einen auf einem niedrigen Sitz thronenden Mann mit Kantharos und Spindel und den bereits besprochenen Delphinreiter.
Wir dürfen als sicher annehmen, daß es sich bei dem Delphinreiter um Phalanthos handelt, schließlich beziehen sich alle zeitgenössischen Überlieferungen auf ihn als denjenigen, den der Delphin rettete. Aristoteles hatte die Münzinschrift schlichtwegs falsch verstanden. Er wußte nicht, daß einige sizilische und unteritalienische Städte ihre Münzen nicht – wie im Mutterland üblich – mit dem Genitiv Plural, sondern mit dem Nominativ Singular bezeichneten. Ein Fehler übrigens, der noch heute sichtbare Folgen hat. In vielen Auktionskatalogen kann man den Namen Taras lesen, wenn der Delphinreiter beschrieben werden soll.
Wir können übrigens noch tiefer schürfen und nachforschen, woher einst Taras und Phalanthos gekommen sein sollen. Historische Persönlichkeiten waren sie mit Sicherheit nicht. Taras soll der Name des Flusses gewesen sein, an dem die Stadt gegründet wurde, die später unter dem Namen dieses Flusses bekannt wurde. Phalanthos dagegen könnte mit einem uralten Gott in Zusammenhang stehen, der in Gestalt eines Delphinreiters verehrt wurde und dem man dann eine Sage „auf den Leib geschneidert“ hat. Alles in allem zeigt dieses Beispiel, wie komplex die Mythologie der Griechen war, viel komplizierter als sie uns nach Lektüre von Gustav Schwab’s klassischen Sagen des Altertums scheint.
Tarent im 16. Jahrhundert. Quelle: Wikipedia.
Werfen wir doch noch kurz einen Blick auf Tarent, dessen Münzprägung uns zeigt, welche Bedeutung die Stadt im Altertum besessen hat. Heute ist Tarent ein Fall für die Abrißbirne. Die antike Stadt ist überwuchert von halb verfallenen Palazzi, von Häusern, die dem Einsturz näher zu sein scheinen als der Restaurierung. Antike Relikte sind kaum zu sehen. Das Nationalmuseum mit seinen wertvollen Goldfunden ist bis auf weiteres geschlossen. Einige Bestände sind ausgelagert, doch die wertvollen Objekte liegen unsichtbar für die nächsten paar Jahrzehnte in den Archiven der Soprintendenza.
Wappen von Tarent. Quelle: Wikipedia.
Sucht man nach Phalanthos, dann bleiben einem nur mehr die Wappen der Stadt. Da reitet stolz ein junger Mann mit Dreizack und einem ziemlich nutzlosen Tuch auf einem Delphin. Wer das ist? Nun klar, Wikipedia verrät’s: Es handelt sich um Taras, den Sohn des Poseidon, der im Fluß Tara ertrank. Ihm sei ein Delphin erschienen, als er dem Poseidon ein Opfer gebracht habe (keine Ahnung, warum er für das Opfer Dreizack und Tuch brauchte). Daraufhin sei er so ermutigt gewesen, daß er die Stadt Tarent gegründet habe. Nun, was soll man dazu sagen? Im Falle Tarent hatte man eben immer schon Mühe damit, die Mythen richtig zu erzählen.