Dionysos – Die griechische Erlebnisreligion


mit freundlicher Genehmigung von Dr. Hans Voegtli / ACAMA

MAKEDONIEN. Unbestimmte Münzstätte. Stater, 540-525 v. Chr. Nackter ityphallischer Satyr n. r. stehend, eine Mänade bei der Hand packend. Die Mänade will fliehen, wendet aber ihren Kopf dem Satyr zu; im Feld oben Kügelchen. Rv. Schräg geteiltes Quadratum incusum. 9,91 g. Svoronos, Hell. Tf. 8, 4. SNG ANS 956 (Av.
stgl.).

Die meisten können nur den Kopf schütteln, wenn sie die griechischen Sagen lesen. Welcher vernünftige Mensch kann an Götter glauben, die sich aufführen, als wären sie direkt einer Fernsehserie billigster Machart entsprungen. Da gibt es Ehebruch, Vergewaltigung, Intrigen und Betrug. Ein liebestoller Zeus läuft jeder Frau nach, der er habhaft werden kann, und seine gestrenge Gattin rächt sich dafür. Jedes Mitglied des griechischen Pantheons hat seine Lieblinge und seine Feinde, und gerecht geht es in keinem Fall zu. Uns ist der Blick auf das Wesen der griechischen Religion durch 2000 Jahre Christentum versperrt. Um nachzuvollziehen, an was ein Grieche dachte, wenn er Zeus, Athena oder Dionysos sagte, müssen wir zu den Ursprüngen zurückgehen.

Die griechische Religion wird heute in der modernen Forschung als „Erlebnis-Religion“ bezeichnet. Damit ist gemeint, daß verschiedene Erfahrungen verschiedenen Göttern zugeordnet wurden: Wenn sich die Wirklichkeit für Sekunden zu verändern schien, wenn plötzlich alle Normalität aufgehoben war, dann hatte ein Gott in das Leben der Menschen eingegriffen. Besonders deutlich wird das, wenn wir uns das Wirken des Dionysos vor Augen führen.

Er war derjenige, der mit der anderen Seite im Menschen in Verbindung gebracht wurde. Während wir normalerweise unserer geregelten Arbeit nachgehen, Anzug und Krawatte tragen und uns nach streng festgelegten Normen benehmen, steckt in jedem auch ein Teil, der wild sein will, zügellos, unzivilisiert, einfach ganz anders. Alkohol kann manchmal diese andere Seite in uns zum Vorschein bringen, und so galt Dionysos in Griechenland als der Gott, der den Menschen den Wein geschenkt hatte. Im Theaterspiel maskieren sich Menschen und sind für ein paar Stunden jemand anderer und so feierten die Griechen ihren Gott im Theater. Dionysos ist der Gott des wild und ungezügelt wachsenden Efeu, der freien, nicht kultivierten Natur, der wilden Tiere, die bedrohlich und schön zugleich sein können wie der Begleiter des Gottes, der Panther. Dionysos ist die andere Seite von Apollon, dem Gott des Maßes und der Selbstbeherrschung. Nur beide zusammen ergeben ein Ganzes.

 

Dionysische Feierlichkeiten. Darstellung auf einem römischen Sarkophag in einer Zeichnung von 1696.

Während die meisten von uns nach 500 Jahren puritanisch beeinflußter Erziehung die wilde Seite in sich zurückgedrängt haben, nahmen die Griechen das Anrecht des Gottes Dionysos auf einen Teil ihres Lebens als selbstverständlich hin. Wenn sich Apollon im Winter aus dem Orakel von Delphi zurückzog, übernahm sein Bruder Dionysos die Herrschaft. Ihm zu Ehren wurden große Feste gefeiert und wilde Umzüge abgehalten. Die tanzende Mänade mit ihren aufgelösten Haaren gehörte dazu, aber auch der Satyr, der angestachelt von sexueller Begier versucht, die tanzende Mänade an sich zu ziehen. Im normalen Leben war die Mänade wohl eine brave Hausfrau, die treu am Webstuhl saß und auf ihren Mann wartete; der Satyr war vielleicht ein Bäcker oder ein Töpfer, jedenfalls ein Bürger, der seinen Dienst für die Gemeinschaft ausübte. Beide wären von der griechischen Gesellschaft geächtet worden, hätten sie im Rahmen ihres gewöhnlichen Alltags Ehebruch begangen. Nicht jeder Besoffene war vom Gott besessen. Nur das religiöse Ritual ließ es zu, daß unterdrückte Wünsche und Begierden im Rahmen des Erlaubten ausgelebt wurden. Im Umzug zu Ehren des Dionysos legte jeder Grieche seinen Alltag ab und gab sich seinen Trieben hin. Nur noch Lebensfreude und der Augenblick zählten.

Die Vorderseite unserer Münze, die in einer unbekannten Münzstätte irgendwo in Makedonien geprägt wurde, ist inspiriert von diesen Gedanken. Gerade im wilden, noch wenig zivilisierten Norden Griechenlands finden wir häufig Bilder, die mit dem Gott Dionysos in Verbindung stehen: Die Amphore voller Wein für Terone, der Weinstock für Maroneia, der immer brünstige Ziegenbock für Aigai, der ithyphallische Esel für Mende, der auf späteren Prägungen den Gott selbst auf seinem Rücken trägt. Unser Bild zeigt das Wirken des Gottes Dionysos im Spiel von Begehren und Werben, von Sexualität ohne Bindungen.

Kein Wunder, daß man im 19. Jahrhundert diese Bilder nicht mehr verstehen wollte, daß der griechische Glaube auf eine unverständliche Ansammlung von komischen Geschichtchen reduziert wurde. Man sah nur noch Schuld und Sünde im hemmungslosen Ausleben der Triebe. Der göttliche Funke, der auch diesen Seiten unseres Daseins innewohnt, war erloschen.

  • L. Bruit Zaidman, P. Schmitt Pantel, Die Religion der Griechen, München 1994
  • M. Detienne, Dionysos à ciel ouvert, Paris 1986.
  • U. Kampmann, Gottheit und Polis, Stuttgart 1999.
  • J.-P. Vernant, L’univers, les Dieux, les Hommes, Paris 1999.