Mutige Mädchen im Münzen-Wunderland
von Gabriele Sturm
Wer erinnert sich nicht an Vorlesestunden, in denen Eltern oder Großeltern von außerordentlichen Kindern, fantastischen Tieren oder anderen seltsamen Wesen erzählten. Und an das sehnlichst herbeigewünschte Vergnügen, dann endlich selbst die wunderbaren Geschichten der Kinderbücher erkunden zu können, die in teils fremde, teils vertraute Welten entführten und deren Hauptfiguren als positive wie als negative Identifikationen dienen konnten.
Neben ihrem Buchleben haben es einige dieser Figuren auf die Leinwand der Kinos bzw. auf den Bildschirm von Fernseher oder Computer geschafft – manche entsprechen den beim Lesen entstandenen eigenen Vorstellungen, andere nicht.
Auch die moderne Numismatik bzw. Münzprägungen der jüngst vergangenen Jahre haben einige der Heldinnen und Helden aus Kinder- und Jugendbüchern der vergangenen beiden Jahrhunderte entdeckt. Hier möchte ich schauen, welche erschriebenen Mädchen im Münzbild in welcher Situation auftreten. Dabei beschränke ich mich auf mutige Mädchen – also auf solche, die sich beherzt und neugierig mit Selbstvertrauen und Zuversicht auch unsicheren Situationen stellen und diese zu guter Letzt erfolgreich bewältigen.
Zum Hintergrund: Erst mit der Kulturepoche der Aufklärung entstand im 17. Jahrhundert ein Bewusstsein dafür, dass die Kindheit eine eigene Zeitspanne im Leben jedes Menschen ist; im 18. Jahrhundert wurde diese Vorstellung um eine Phase der Adoleszenz erweitert (Ariès 1975). Mit der Verbreitung dieser neuen Einsicht entstanden dann vor allem im 19. Jahrhundert mit einem selbstbewusster werdenden Bürgertum entsprechende Bildungseinrichtungen und Lehrtexte.
Infolge der Popularität von Märchensammlungen während der Epoche der Romantik entstanden zeitgleich moderne Märchen, die zur Abgrenzung gegenüber den Volksmärchen als Kunstmärchen bezeichnet werden. Zu den beliebtesten Märchendichtern jener Zeit zählten Ludwig Tieck (1773 – 1853), E.T.A. Hoffmann (1776 – 1822), Clemens Brentano (1778 – 1842), Alexander Sergejewitsch Puschkin (1799 – 1837), Wilhelm Hauff (1802 – 1827), Hans Christian Andersen (1805 – 1875) und Oscar Wilde (1854 – 1900). Deutlicher als die orts- und zeittypischen Verschriftlichungen der Volksmärchen weisen die Kunstmärchen auf die gesellschaftlichen Hierarchien ihrer Zeit hin, auf ökonomische, soziale und kulturelle Armut breiter Teile der Bevölkerung (vor allem der Kinder) oder auf die sich abzeichnenden negativen Folgen der einsetzenden Industrialisierung bei gleichzeitiger Freisetzung der kleinbäuerlichen, großteilig leibeigenen Landbevölkerung. Da mir die im Münzbild dargestellten weiblichen Protagonistinnen der Kunstmärchen von Hans-Christian Andersen für junge Leserinnen mehrheitlich wenig Mut machend erscheinen, werden diese hier nicht vorgestellt. Auch fehlt die junge Amerikanerin Dorothy Gale aus der Erzählung Der Zauberer von Oz, die geschrieben von L. Frank Baum im Jahr 1900 erschien, weil ich diesbezügliche Münzen bzw. Münzfotos (Cook Islands 2017 oder Tuvalu 2019) nicht habe.
Anders sieht dies für die Figur der Marie aus dem Kunstmärchen Nussknacker und Mausekönig (1816) von E.T.A. Hoffmann (1776 – 1822) aus: In der Weihnachtsnacht erkennt Marie aufgrund von Erzählungen im lädierten Nussknacker ihres Bruders den verschwundenen Neffen ihres Patenonkels, der verhext wurde. Da sie voller Zuversicht dem hässlichen und verletzten Nussknacker ins Puppenreich folgt und im Kampf gegen den Mausekönig beisteht, kann sie ihn erlösen, der Neffe erhält seine vorherige Menschengestalt zurück und Marie gewinnt ihn als Lebensgefährten. Im 1892 komponierten Ballett von Peter Tschaikowski heißt die Protagonistin Clara, so wie die Tochter von Hoffmanns Freund J.E. Hitzig, die mit der Heldin im Märchen portraitiert wurde. Aufgrund der begrenzten Formensprache eines klassischen Handlungsballetts wird in den darauf bezogenen Münzbildern der weiblichen Hauptperson in Bezug auf Körpersprache allerdings viel von ihrer Stärke genommen.
- Cook Islands, 2 Dollars, 2008. Serie: Animationsfilme der sowjetischen Soyuzmultfilm – Der Nussknacker (1973) nach E.T.A. Hoffmann.
- Belarus, 20 Rublòu, 2009. Serie: Märchen der Welt.
- United Kingdom, 5 Pounds, 2018. Stilisierte Ballettfiguren zur Serie: Christmas Coins.
Die Übergänge vom Kunstmärchen zum Kinderroman sind fließend. Als fantastische Fortsetzungsgeschichten mit pädagogischem Anspruch wurden Pinocchio von Carlo Collodi Lorenzini (1826 – 1890) oder Die wunderbare Reise des kleinen Nils Holgersson mit den Wildgänsen von Selma Lagerlöf (1858 – 1940; Nobelpreis: 1909) geschrieben. Als mutiges Mädchen erlangte ALICE Weltruhm. Ihre Abenteuer wurden in den beiden Büchern Alices Abenteuer im Wunderland (1865) und Alice hinter den Spiegeln (1871) von Lewis Carroll (1832 – 1898) mit Illustrationen von John Tenniel verewigt und gelten bis heute als Paradebeispiel für literarischen Nonsens, der Kinder wie Erwachsene in den Bann zieht.
- Frankreich, 1,5 Euro / 20 Euro, 2003. Serie: Jugendträume der Welt.
- Belarus, 20 Rublòu, 2007. Zwei Versionen zur Serie: Märchen der Welt.
- Salomonen, 2 Dollars, 2014. Anlass: 150. Jahrestag der ersten illustrierten Erzählung von Lewis Caroll.
- Tuvalu, 1 Dollar / 2 Dollars, 2015. Anlass: 150. Jahrestag der ersten illustrierten Erzählung von Lewis Caroll.
- Niue Island, 2 Dollars / 25 Dollars, 2016. Anlass: 65. Jahrestag des Disney-Zeichentrickfilms Alice in Wonderland.
- Niue Island, 2 Dollars, 2018. Vier Szenen aus Disney-Zeichentrickfilm Alice in Wonderland in Box.
- Isle of Man, 50 Pence, 2021. Anlass: 150. Jahrestag der Fortsetzungserzählung von Lewis Caroll.
- Niue Island, 2 Dollars, 2021. Vier Versionen zum 70. Jahrestag des Disney-Zeichentrickfilms Alice in Wonderland.
- United Kingdom, 1 Pound / 2 Pounds / 5 Pounds / 100 Pounds, 2021. Je zwei Versionen zum Anlass: 150. Jahrestag der Fortsetzungserzählung von Lewis Caroll – CoCo GB-2021-0140 bis GB-2021-0147.
Dass die Abenteuer der „ältesten“ hier vorgestellten mutigen Mädchen der Kinder- und Jugendliteratur in Fantasieräumen stattfinden, ist wenig erstaunlich. Die gesellschaftliche Realität der erwachsenen Frauen erlaubte ihnen im 19. Jahrhundert das in der Vorstellung mögliche Handeln nicht. „Aus Eigenschaften wie Tugend, Sittsamkeit und Fleiß wird den Frauen ihre Rolle als Hausfrau und Mutter zugeschrieben. Da es ihnen angeblich an Objektivität und Urteilsvermögen fehlt, wird Frauen der Status als autonome Menschen verweigert. Ein Vormund, zum Beispiel Vater, Bruder oder Ehemann, bestimmt über ihr Leben“ (Warsitz o.J.) – zumindest in den Familien des aufstrebenden Bürgertums. An derartigen gesellschaftlichen Zwängen droht die nächste hier numismatisch präsentierte Heldin zu zerbrechen, das Waisenmädchen HEIDI aus den 1879 und 1881 veröffentlichten Romanen von Johanna Spyri (1827 – 1901): Heidis Lehr- und Wanderjahre und Heidi kann brauchen, was es gelernt hat. Unterstützung findet Heidi in der – von der Autorin stark idealisierten – Natur und durch ihren unangepasst lebenden Großvater. Die Münzbilder zeigen das harte und einsame Leben eines Hirtenmädchens jener Zeit allerdings nur aus einer extrem verniedlichenden Perspektive.